Das Freiwillige Soziale Jahr
Es gilt als Erfolgsmodell freiwilliger Hilfe für die Allgemeinheit: das Freiwillige Soziale Jahr. Jedes Jahr helfen Jugendliche und junge Erwachsene in verschiedenen Institutionen im In- und Ausland.
Gutes tun, Erfahrungen sammeln, erwachsen werden: Jedes Jahr beginnen mehrere zehntausend junge Menschen in Deutschland ein Freiwilliges Soziales Jahr, kurz FSJ. Voraussetzung ist, dass sie die Schule abgeschlossen haben und mindestens 16 und höchstens 26 Jahre alt sind. Sie werden überall dort eingesetzt, wo Arbeit für das Allgemeinwohl anfällt – nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland. Das können Krankenhäuser, Grundschulen, Behinderten- und Alteneinrichtungen oder Kindertagesstätten sein, aber auch Sport- und Kulturvereine sowie Museen und Theater. Das FSJ dauert mindestens sechs Monate und höchstens anderthalb Jahre. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten ein Taschengeld von maximal 381 Euro monatlich, häufig eine kostenlose Wohnmöglichkeit und eine regelmäßige pädagogische Begleitung in Form von Seminaren. Durchgeführt wird das FSJ von Institutionen und Organisationen, die dafür zugelassen sind. Dazu gehören Wohlfahrtsverbände, Kirchen, aber auch Stellen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Zu einer der ersten Teilnehmerinnen des Freiwilligen Sozialen Jahres gehört Ute: Sie hatte sich Mitte der 1960er Jahre beworben – als Vorschülerin für die Krankenpflegeausbildung, einer Art Praktikum vor der Ausbildung. Da kam das FSJ gerade recht, wie sie sagt:
„Ich wollte Krankenschwester werden. Und da ergab sich das natürlich als gute Vorbereitungszeit. Ich war damals ja erst 16, und man konnte eben erst ab 17 die Ausbildung beginnen. Und da war das natürlich ’ne super Überbrückungszeit, die einem dann auch schon mal den Beruf nähergebracht hat, weil wir auch da schon in der Pflege eingesetzt waren. Und da konnte man eben auch überprüfen, ob dieser Beruf geeignet ist. Und für mich war der dann sehr geeignet. Ich hab da wirklich noch mal so die Liebe zur Pflege vertiefen können.“
Für Ute war das Jahr, in dem sie für die Schwesternschaft des Deutschen Roten Kreuzes am Bonner Uniklinikum arbeitete, eine tolle Möglichkeit, die Wartezeit bis zum Beginn ihrer Ausbildung zu überbrücken, sie auszufüllen. Denn sie lernte unter anderem, was für die Gesundheits- und Krankenpflege notwendig ist. Das FSJ bestärkte sie noch in ihrem Berufswunsch. Ihre Chefin förderte ihre Eigenständigkeit und stärkte ihr Selbstbewusstsein. Gerade dieser Aspekt ist etwas, was auch Mirjam von ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr in Erinnerung geblieben ist:
„Allein die Tatsache, dass ich so gemerkt habe, dass es auf einmal relevant ist, ob ich da bin oder nicht – so im Gegensatz zur Schule –, dass ich gebraucht werde, das war für mich ganz wichtig. Und dass ich das erste Mal Verantwortung übernommen habe für andere Menschen. Das hat mich sehr weitergebracht. Und dann auch zu merken: ‚Mir wird was zugetraut und ich kann mich darin ausprobieren, aber es hat halt auch immer ’ne Relevanz‘.“
Das Freiwillige Soziale Jahr hat Mirjam weitergebracht, hat dafür gesorgt, dass sie sich vor allem persönlich weiterentwickelt hat. Ihr Selbstbewusstsein wurde gestärkt, weil man ihr Vertrauen entgegenbrachte, ihr etwas zutraute. Sie konnte sich ausprobieren, konnte Dinge versuchen, um zu testen, ob etwas funktioniert oder nicht. Besonders stark ist ihr eine Situation in Erinnerung geblieben:
„So ’ne Einzelsituation, die für mich sehr eindrucksvoll in diesem Jahr war, war, als ein Mädchen einfach, nachdem wir lange schon miteinander Kontakt hatten, so viel Vertrauen zu mir gefasst hat, dass sie mir von ihrer Missbrauchsgeschichte erzählt hat aus ihrem Elternhaus. Und das hat mich sehr beeindruckt, und denke ich auch immer noch mal dran, wie das so war damals.“
Ein Mädchen, das von einem Verwandten missbraucht worden war, dem körperliche und/oder seelische Gewalt angetan worden war, hatte Mirjam ihre Geschichte anvertraut. Das gehört für sie zu den prägendsten Erlebnissen ihres FSJ. Das hatte sie im Rahmen eines sogenannten Diakonischen Jahres in einem Kinderheim in der Nähe Hamburgs abgeleistet. Beim Diakonischen Jahr liegt der Schwerpunkt auf Tätigkeiten in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Krankenhäusern sowie in Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe. In dem Hamburger Kinderheim war sie für die Betreuung einer Mädchenwohngruppe mitverantwortlich. Hausaufgaben, Schulkrisen, Liebesgeschichten: Mirjam war vor allem Gesprächspartnerin für die Mädchen. Beworben hatte sie sich vor allem, weil sie sich über ihren weiteren Weg noch im Unklaren war und nach der langen Schulzeit nicht sofort mit einem Studium beginnen wollte. Nach einem halben Jahr hatte sich ihr späterer Berufswunsch dann herausgebildet. Ähnlich erging es Nina Ricarda:
„Vor allem zuerst [war] wichtig, dass ich gesagt hab: ‚Boah, jetzt nach dieser langen Zeit Schule, ich hab keine Lust direkt, sofort weiter die nächste Station zum Studium zu gehen. Zum anderen war also auch ein wichtiger Punkt, dass es ziemlich schwer war, so einfach ’n Studienplatz für Sozialarbeit zu finden, weil der Numerus Clausus zwischen 1,2 und 1,5 liegt. [Dem] hat mein Abschluss irgendwie nicht entsprochen. Und dann hab ich gesagt: ‚Okay, das ist einfach ’ne gute Lösung, so die Zeit mal zu überbrücken und sich auch einfach noch mal wirklich zu vergewissern, ob dieser pädagogische Beruf, die soziale Arbeit, ob mir das liegt, ob mir das noch entspricht und ob ich das dann auch noch nach diesem Jahr will‘.“
Keine Lust, nach der Schule direkt mit einem Studium zu beginnen, sowie ein zu hoher Numerus Clausus, ein Notendurchschnitt, der für die Zulassung in sehr vielen Studienfächern notwendig ist, brachten Nina Ricarda auf die Idee, ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen. Darüber hinaus wollte sie testen, ob sie dann auch nach einem Jahr noch Freude an sozialer Arbeit hat, sie ihr noch entspricht. Sie ging an eine Ganztagsgrundschule: Vormittags half sie im Unterricht und kümmerte sich vor allem um Kinder mit Lernschwierigkeiten, nachmittags betreute sie eine Hausaufgabengruppe. Wie bei Ute und Mirjam festigte sich auch Nina Ricardas Berufswunsch in dem Jahr: Sie studierte Soziale Arbeit und fand später eine Anstellung bei dem Sozialträger, bei dem sie das FSJ absolviert hatte. Am Ende eines Freiwilligen Sozialen Jahres kann aber auch ein ganz anderer Berufswunsch stehen, als in der Sozialarbeit tätig zu werden. So wie bei Aneke. Bei ihr stand danach fest, dass sie Pastorin werden wollte. Allerdings bestätigt sie, was auch Ute und Mirjam erfahren haben:
„Es gab sehr viele prägende Erfahrungen in der Zeit. Was mir sehr in Erinnerung geblieben ist, ist vor allen Dingen ein bestimmter Zeitraum, in dem meine Anleiterin krank war und ich sehr auf mich allein gestellt war. Das war einerseits eben sehr herausfordernd. Man musste plötzlich sehr viel Verantwortung übernehmen. Aber andererseits hab ich dann in der Zeit auch deutlich gemerkt, was ich alles kann und was ich auch leisten kann, und das hat auch mein Selbstbewusstsein sehr gestärkt.“
Aneke erinnert sich an eine besonders prägende Situation, ein Ereignis, das starken Einfluss auf sie hatte: Sie sollte die Person vertreten, die sie anleitete, ihr für ihre Arbeit nützliche Hinweise gab, eine Art Ausbilderin war. Plötzlich war sie auf sich allein gestellt, hatte niemanden, den sie um Hilfe und Rat hätte bitten können. Sie stellte allerdings fest, was alles in ihr steckte, was sie konnte. Nach dem Schulabschluss wusste Aneke nicht, was sie studieren sollte. Daher entschied sie sich für das FSJ. Sie hatte sich ihre Stelle aufgeteilt: Vormittags assistierte sie in einer Grundschule, nachmittags machte sie Kinder- und Jugendarbeit in einer Kirchengemeinde. Nach ihrem FSJ studierte sie Theologie an der Universität Göttingen.
Vier Beispiele – vier Geschichten. Das FSJ, dessen 50-jähriges Bestehen im Jahr 2014 gefeiert wurde, kann als Erfolgsmodell bezeichnet werden. Vielleicht hat das der frühere Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Hermann Dietzfelbinger, geahnt, als er 1954 junge Christinnen dazu aufrief, ein Lebensjahr „für den Dienst in der Gemeinde zu geben“. Schon vier Jahre später schlossen sich auch die katholische Kirche und die Träger der Freien Wohlfahrtspflege der Bewegung an. Und im Jahr 1964 schließlich trat das Gesetz zur bundesweiten Einführung des Freiwilligen Sozialen Jahres in Kraft.