Das deutsche Volkslied – ein Auslaufmodell?
Für die einen sind sie total ‚out‘, für die anderen ein Stück Kulturgut: deutsche Volkslieder. Nach Kriegsende galten sie als geschichtlich belastet. Und heute? Da hört man eher volkstümliche Musik.
„Von Volksliedern halt ich eigentlich nicht mehr so viel, weil, ist ja heute eigentlich ziemlich out so, wenn man Volkslieder hört und so. Ja, höchstens aus dem Musikunterricht kennt man so ’n paar Volkslieder, die man dann da singen musste. Oder aus der Kindheit noch, im Kindergarten. Aber so aktuell sind die ja eigentlich nicht mehr. Weil, heute gibt’s ja viel coolere Lieder, so von Lady Gaga oder Robbie Williams. / Ich finde es schade, weil sie drücken doch irgendwie ein Stück deutsche Geschichte, deutsche Kultur auch aus. / Ja, das sind natürlich Texte, die aus vergangenen Zeiten erzählen, weil sie damals geschrieben wurden. Deswegen sollte man sich, find ich, auch dran erinnern, wie es früher einfach mal war.“
Die Meinungen, ob Volkslieder noch in die heutige Zeit passen, sind geteilt. Die eine Fraktion lehnt sie komplett ab, findet, dass sie out sind, nicht mehr in die heutige Zeit passen, und es viel coolere, modernere, ansprechendere, Lieder gibt. Die andere Fraktion dagegen sieht in ihnen ein Spiegelbild deutscher Geschichte und Kultur und eine Tradition, die bewahrt werden sollte.
Eingeführt wurde der Begriff „Volkslied“ Ende des 18. Jahrhunderts vom deutschen Dichter und Philosophen Johann Gottfried Herder als Pendant Pendant, -s (n., aus dem Französischen) ein Gegenstück zu etwas zum englischen Begriff „popular song“. Denn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das zugleich das Zeitalter der Romantik Romantik (f., nur Singular) hier: eine kulturgeschichtliche Epoche (vom Ende des 18. bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts) wie auch der beginnenden Industriellen Revolution Industrielle Revolution (f., nur Singular) eine Epoche (etwa vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts), die zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel in Europa führte war, machte sich eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ breit, nach dörflichem Idyll Idyll, -e (n.) eine Vorstellung, ein Bild von einem Zustand eines friedlichen, einfachen, meist ländlichen Lebens und unberührter Natur – und das wurde eifrig besungen. Zunächst waren die Lieder unpolitisch. Das änderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; jetzt ging es in den Texten oftmals um das schwere Los ein schweres Los (tragen) hier: ein hartes, anstrengendes Leben führen der Arbeiter, Bauern, Handwerker und Soldaten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand die sogenannte Wandervogelbewegung Wandervogelbewegung (f., nur Singular) eine 1933 aufgelöste Schüler- und Jugendbewegung, die Wanderungen unternahm und alte Lieder sang . Ihre Mitglieder hatten immer das 1909 erschienene Liederbuch namens „Zupfgeigenhansl“ im Rucksack, wenn sie auf Wanderschaft gingen und Volks- und Fahrtenlieder Fahrtenlied, -er (n.) ein Lied, das von Angehörigen einer Jugendbewegung gesungen wird, die gerne in der Natur sind und wandern anstimmten an|stimmen zu singen beginnen . Eine dunkle Zeit erlebte das traditionelle Volkslied dann in der Zeit des Nationalsozialismus nach 1933. Das NS-Regime begann nach und nach damit, die Lieder für eigene Zwecke zu missbrauchen und sie bei passenden Gelegenheiten in infamer infam abwertend für: bösartig, schändlich Weise zur Demütigung einzusetzen. So wird beispielsweise von dem Fall berichtet, dass Häftlinge auf dem Weg ins Konzentrationslager Börgermoor im westlichen Niedersachsen das eigentlich fröhliche Lied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ singen mussten, während sie dabei misshandelt wurden. Darüber hinaus nutzten die Nationalsozialisten die Musikform des Volksliedes als Propagandainstrument und staatliches Erziehungsmittel. Neue patriotische patriotisch so, dass jemand sein Vaterland liebt und auch bereit ist, dafür zu kämpfen Lieder wurden komponiert, die melodisch und textlich den alten Liedern nachempfunden waren. Gerade dieser Missbrauch hat nach Ansicht des ehemaligen Chorleiters Volker Hempfling dazu geführt, dass das Volkslied nach 1945 komplett abgelehnt wurde. Denn, so Hempfling:
„Weil die Vorsicht, national zu sein oder national zu denken, natürlich sehr, sehr stark war. Und da ist das Volkslied sicherlich in Mitleidenschaft gezogen worden, nicht nur die Lieder, die Hitler benutzt hat, sondern eben auch alles andere. Das war allgemein: Das deutsche Volkslied können wir nicht mehr gebrauchen. Das macht uns ins Ausland hin verdächtig.“
Volkslieder galten nach Ende des Dritten Reichs Das Dritte Reich (n., nur Singular) der Nationalsozialismus; die Diktatur Hitlers (1933–1945) lange Jahre als politisch belastet. Sie standen auch für die Verbrechen, die von den Nationalsozialisten im Namen des deutschen Volkes verübt wurden, und verschwanden in der Versenkung in der Versenkung verschwinden redensartlich für: nicht mehr erscheinen, gesehen werden und in Vergessenheit geraten . Das entstandene Vakuum Vakuum (n., nur Singular) hier: eine Leere besetzte dann die sogenannte volkstümliche Musik, Lieder in deutscher Sprache, die aber mit etwas mit jemandem/etwas gemein haben zwei oder mehrere Personen haben etwas gemeinsam (z. B. eine Eigenschaft, Ansicht) dem eigentlichen Volkslied nicht mehr viel gemein hatten etwas mit jemandem/etwas gemein haben zwei oder mehrere Personen haben etwas gemeinsam (z. B. eine Eigenschaft, Ansicht) und haben etwas mit jemandem/etwas gemein haben zwei oder mehrere Personen haben etwas gemeinsam (z. B. eine Eigenschaft, Ansicht) . Im Prinzip handelt es sich um populäre Unterhaltungsmusik, die sich volksmusikalischer Elemente bedient, volkstümelnd ist. Zwar haben die Volksmusikstars heutzutage in Deutschland eine treue Anhängerschaft; die überwiegende Mehrheit der Deutschen lehnt diese Art der Musik aber ab, meint Volker Hempfling:
„Die Ablehnung, die hat sicherlich damit zu tun, dass das Volkslied volkstümelnd oder in Kostümen im Fernsehen dargeboten wird. Obwohl ich sagen muss, wenn diese Sendungen nicht wären, wär’ in Deutschland vielleicht das Volkslied schon total zusammengedörrt.“
Volksmusikshows – ob öffentlich oder in den Medien –, in denen Künstlerinnen und Künstler etwa in Lederhose oder Dirndl auftreten, sind etwas, das nicht jede und jeden vom Hocker reißt jemanden vom Hocker reißen umgangssprachlich für: jemanden sehr stark begeistern . Wenn es diese Veranstaltungen allerdings nicht gäbe, wäre das deutsche Lied als solches, so Volker Hempfling, schon ausgestorben, sähe aus wie vertrocknetes, gedörrtes, Obst. Doch ganz verloren ist das alte deutsche Liedgut trotzdem nicht, denn die Romantiker haben schon früh begonnen, die Lieder aufzuzeichnen. Die berühmteste Sammlung stammt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Sie veröffentlichten Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ gleich mehrere Bände. Brentano war auch der Schöpfer der Sagengestalt Loreley, der Heinrich Heine später ein Gedicht widmete. Das wurde in seiner vertonten Version zu einem beliebten Volkslied, das man heute auf der ganzen Welt kennt.
Um das deutsche Liedgut dauerhaft zu bewahren, gründete 1914 der Germanist und Volkskundler John Meier in Freiburg im Breisgau das Deutsche Volksliedarchiv. Zum damaligen Kernbestand Kernbestand, -bestände (m.) hier: etwas, das grundlegender, zentraler Bestandteil von einer Gesamtheit ist (z. B. einer Bibliothek, eines Archivs) der Sammlung gehörten auch Kriegs- und Soldatenlieder, Handschriften mit Liedtexten und erste Aufzeichnungen von mündlich überlieferten Texten. Meier setzte sich dafür ein, dass diese Sammlung systematisch ergänzt wurde und allen zur Verfügung stand. Allerdings hatte er eine klare Definition davon, was ein Volkslied ist, sagt Michael Fischer vom „Zentrum für Populäre Kultur und Musik“, zu dem das Archiv seit 2014 gehört:
„Das sollte mündlich überliefert sein und nicht schriftlich – und so weiter und so fort. All das hat sich im Grunde als Mythos erwiesen.“
Der Ansatz, was denn genau ein Volkslied ist, basierte lange auf einem Mythos, einer Annahme, die mit der Realität nicht übereinstimmte. Denn es gab beispielsweise auch Kunstlieder, die sich sich etablieren hier: nach einiger Zeit bekannt werden; normal werden ebenfalls als allgemeines Liedgut etablierten sich etablieren hier: nach einiger Zeit bekannt werden; normal werden und nicht mündlich tradiert tradieren überliefern wurden, wie etwa Lieder aus Franz Schuberts Zyklus Zyklus, Zyklen (m.) hier: ein aus mehreren Teilen bestehendes musikalisches Werk „Winterreise“. Auch entwickelte sich parallel zur traditionellen Musik eine kommerzielle, populäre Musik.
Wenn heutzutage gesungen wird, gehören Volkslieder eher selten zum Repertoire Repertoire, -s (n., aus dem Französischen) eine Sammlung von Texten, Theater- bzw. Musikstücken . Was aber kann man gegen das Vergessen dieser Lieder tun? Volker Hempfling meint:
„Singen! Diese Lieder wieder singen, und sie nicht einfach abschieben und sagen, ‚wir singen lieber Englisch‘, sondern ‚gerne Englisch‘ und ‚gerne Französisch‘, aber eben auch Deutsch, und nicht das Deutsche total wegschieben, weil wir sonst die Wurzeln unserer eigenen Lieder vergessen werden.“
Vielleicht ist eine Karaoke Karaoke (n., nur Singular, aus dem Japanischen) eine Freizeitbeschäftigung, bei der nicht ausgebildete Sängerinnen/Sänger bekannte Lieder zu Instrumentalmusik singen (zu Hause oder öffentlich) -Version verschiedener Volkslieder ja ein guter erster Anfang dafür, dass sie kein Auslaufmodell Auslaufmodell, -e (n.) hier übertragen für: etwas, das nicht mehr zeitgemäß ist und irgendwann verschwindet werden.
(Mit Beiträgen von Klaus Gehrke sowie Renate Heilmeier zum Thema)
Das deutsche Volkslied – ein Auslaufmodell?
Pendant, -s (n., aus dem Französischen) — ein Gegenstück zu etwas
Romantik (f., nur Singular) — hier: eine kulturgeschichtliche Epoche (vom Ende des 18. bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts)
Industrielle Revolution (f., nur Singular) — eine Epoche (etwa vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts), die zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel in Europa führte
Idyll, -e (n.) — eine Vorstellung, ein Bild von einem Zustand eines friedlichen, einfachen, meist ländlichen Lebens
ein schweres Los (tragen) — hier: ein hartes, anstrengendes Leben führen
Wandervogelbewegung (f., nur Singular) — eine 1933 aufgelöste Schüler- und Jugendbewegung, die Wanderungen unternahm und alte Lieder sang
Fahrtenlied, -er (n.) — ein Lied, das von Angehörigen einer Jugendbewegung gesungen wird, die gerne in der Natur sind und wandern
an|stimmen — zu singen beginnen
infam — abwertend für: bösartig, schändlich
patriotisch — so, dass jemand sein Vaterland liebt und auch bereit ist, dafür zu kämpfen
Das Dritte Reich (n., nur Singular) — der Nationalsozialismus; die Diktatur Hitlers (1933–1945)
in der Versenkung verschwinden — redensartlich für: nicht mehr erscheinen, gesehen werden und in Vergessenheit geraten
Vakuum (n., nur Singular) — hier: eine Leere
etwas mit jemandem/etwas gemein haben — zwei oder mehrere Personen haben etwas gemeinsam (z. B. eine Eigenschaft, Ansicht)
jemanden vom Hocker reißen — umgangssprachlich für: jemanden sehr stark begeistern
Kernbestand, -bestände (m.) — hier: etwas, das grundlegender, zentraler Bestandteil von einer Gesamtheit ist (z. B. einer Bibliothek, eines Archivs)
sich etablieren — hier: nach einiger Zeit bekannt werden; normal werden
tradieren — überliefern
Zyklus, Zyklen (m.) — hier: ein aus mehreren Teilen bestehendes musikalisches Werk
Repertoire, -s (n., aus dem Französischen) — eine Sammlung von Texten, Theater- bzw. Musikstücken
Karaoke (n., nur Singular, aus dem Japanischen) — eine Freizeitbeschäftigung, bei der nicht ausgebildete Sängerinnen/Sänger bekannte Lieder zu Instrumentalmusik singen (zu Hause oder öffentlich)
Auslaufmodell, -e (n.) — hier übertragen für: etwas, das nicht mehr zeitgemäß ist und irgendwann verschwindet