Corona-Tsunami in Kirgistan
8. August 2020Die Zahlen zu den COVID-19-Fällen spiegeln nicht das wahre Ausmaß der Tragödie in Kirgistan wider, glaubt Maren Ernst. Normalerweise reist sie mehrmals im Jahr in das zentralasiatische Land, aber nun managt Ernst aus Deutschland die Arbeit von Uplift-Aufwind, einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich um Waisen und Kinder mit Behinderungen kümmert.
Von den 44 Mitarbeitern vor Ort kamen irgendwann nur noch rund zehn zur Arbeit, alle anderen waren an Corona erkrankt. Viele von ihnen klagen auch nach der akuten Phase der Krankheit über Unwohlsein.
Maren Ernst will auf eine Krise aufmerksam machen, die ihrer Meinung nach weit über ein rein medizinisches Problem hinausgeht. "Die Bilder waren zum Teil apokalyptisch", sagt sie. Auf Fotos sei beispielsweise zu sehen, wie Menschen nachts in langen Schlangen vor Apotheken in der Hauptstadt Bischkek anstehen.
Epidemiologen sagten Probleme voraus
Viele empfinden diesen Sommer in Kirgistan als katastrophal, unter anderem auch erfahrene Epidemiologen. "Im letzten Monat sind mehr Menschen an einer Lungenentzündung gestorben als im gesamten vergangenen Jahr. Das Gesundheitssystem ist überlastet", sagt Ainura Moldokmatowa.
Sie gehört der Gruppe kirgisischer Experten an, die am internationalen CoMo-Konsortium zur Untersuchung der COVID-19-Epidemie beteiligt sind. Die Vereinigung von Wissenschaftlern aus mehr als 40 Ländern wurde auf Initiative der Universität Oxford ins Leben gerufen, um die weitere Corona-Ausbreitung prognostizieren zu können.
Kirgisische Epidemiologen betonen, sie hätten vorhergesehen, dass ohne Prävention und Vorbereitung auf die Epidemie die Krankenhäuser des Landes überlastet würden und die Sterblichkeit steigen würde. "Wir Spezialisten sehen aber, dass es keine Vorkehrungen gab. Wir sind auf eine zunehmdende Zahl von Erkrankten nicht vorbereitet", sagt Aischan Dooronbekowa vom CoMo-Consortium.
Beobachtungen zufolge gingen die Zahlen nach der Lockerung des Lockdowns Anfang Juni nach zwei Wochen wieder stark nach oben. Im Mai waren rund 1000 Infektions- und zwei Todesfälle gemeldet. Und nach jetzigem Stand der kirgisischen Behörden haben sich schon mehr als 37.000 Menschen mit Corona infiziert und über 1400 sind an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung gestorben.
Ärzte von COVID-19 stark betroffen
Nach offiziellen Angaben gibt es in Kirgistan gut 2000 Krankenhausbetten auf 6,5 Millionen Einwohner. Berechnungen von Ärzten zufolge kommt man unter Berücksichtigung aller eilig eingerichteten Betten in Tageskliniken zusammen auf rund 5000. Dutzende von Räumlichkeiten, darunter Hotels und Sportstudios, wurden zu Krankenstationen umgerüstet. Dass das System dennoch überlastet ist, haben mehrere Fälle gezeigt, wo Patienten direkt vor Krankenhäusern starben, ohne es zum Notdienst geschafft zu haben.
Da viele Kirgisen keine echte Möglichkeit haben, Hilfe in Krankenhäusern zu erhalten, versuchen sie sich selbst zu helfen. Über Gruppen in sozialen Netzwerken suchen Zehntausende nach Medikamenten, hauptsächlich zur Behandlung von COVID-19.
Gleichzeitig weist Kirgistan eine der weltweit höchsten Infektionsraten unter medizinischem Personal auf. Zum 31. Juli waren 2768 Ärzte infiziert, mehr als 70 sind an einer Lungenentzündung gestorben. Außerdem gibt es einen akuten Ärztemangel. Daher sind Medizinstudenten aus höheren Semestern aufgerufen, in Krankenhäusern zu helfen.
Freiwillige von "Bis Barbyz" und "Doctors Online"
Doch in Kirgistan wäre alles noch viel schlimmer, wenn es die starke Bewegung Freiwilliger nicht geben würde, und das sagen viele, die das Land gut kennen. "Wir wussten noch gar nicht, was zu tun, aber uns war klar, dass es selbst große Länder schwer hatten", erinnert sich Urmat Nasykulow, Gründer der Wohltätigkeits-Bewegung "Biz Barbyz" ("Wir sind"), an die Zeit, als die Epidemie begann.
Zusammen mit Kameraden drehte er Erklär-Videos über das Virus. Später begannen Freiwillige, Lebensmittel und wichtige Güter zu sammeln. "Ungefähr ein Viertel der Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Wir haben über Crowdfunding Spenden gesammelt", so der Aktivist.
Arsen Abdijew, ein bekannter kirgisischer Zahnarzt, begann Spenden für einen Sauerstoffkonzentrator zu sammeln. "Dann haben wir gesehen, dass wir noch mehr tun können. Vergangene haben wir sechs Konzentratoren in das Krankenhaus in Talas gebracht. Die Lage dort ist erbärmlich. Alle Mediziner sind krank. Wie soll dann die Bevölkerung behandelt werden?", klagt Abdijew.
Soziale Netzwerke spielen eine wichtige Rolle bei der Organisation humanitärer Hilfe. Zusammen mit Kollegen gründete Abdijew den Kanal "Doctors Online" bei Telegram, der inzwischen fast 100.000 Abonnenten hat. Jeder kann sich dort kostenlos von einem Arzt beraten lassen.
Hilfe für Kirgistan aus dem Ausland
Die Krise in Kirgistan wird von der deutschen Presse kaum wahrgenommen, aber die Bundesregierung ist sich der Lage im Land bewusst. "Wir sind sehr besorgt über die Zunahme der Zahl der Infizierten in Kirgistan", sagt Dirk Wiese, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft. Ihm zufolge sollen bald 50 Beatmungsgeräte an Krankenhäuser in Osch und Bischkek geschickt werden.
Die kirgisischen Behörden hatten gemeldet, dass 220 zusätzliche Geräten benötigt werden. Zuvor hatte die Bundesrepublik über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gezielte Hilfe in Höhe von 20 Millionen Euro zur Überwindung der Pandemie bereitgestellt. Und die Europäische Union gewährte weitere 36 Millionen Euro, davon 30 zur Stabilisierung des Staatshaushalts, wie die DW in Brüssel erfuhr.
"Viele Maßnahmen nur auf dem Papier"
Offiziell sind in Kirgistan Quarantäne-Regeln in Kraft. Die Staatsgrenze ist geschlossen, der Schulunterricht findet online statt und bei viele Unternehmen gibt es Homeoffice. "Aber die wichtigsten Maßnahmen, die soziale Distanz, das Tragen von Schutzmasken und die Handhygiene, sind nach wie vor ein schwieriges Thema", sagt die Epidemiologin Tschynar Schumalijewa. Viele Maßnahmen gebe es nur auf dem Papier, fügt Aibek Mukambetow hinzu. Er leitet das Gesundheitsprogramm der Soros-Stiftung in Kirgistan.
Die Ärztin Aischan Dooronbekowa sagt, "am vernünftigsten wäre, sich genau jetzt auf die zweite Welle vorzubereiten". Es gibt immer noch nicht genügend Betten in Krankenhäusern, um sie bewältigen zu können. Die Pläne, zusätzliche Krankenhäuser in Bischkek und in Osch mit jeweils 100 Betten zu errichten, sei nur "ein Tropfen auf den heißen Stein".