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Deutschland vergisst seine Flüchtlinge

27. Januar 2021

Über Folgeschäden des Corona-Lockdowns für Kinder und Jugendliche, Wirtschaft und Kultur wird eifrig debattiert. Doch was ist eigentlich mit den Flüchtlingen, die in Deutschland leben?

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Samir Al Jubouri
Samir Al Jubouri in der Zentralen Unterbringungseinrichtung in BonnBild: Oliver Pieper/DW

Als Samir Al Jubouri im Januar letzten Jahres nach Deutschland kommt, ist die Welt noch halbwegs in Ordnung. Der Iraker ist heilfroh, sich irgendwie nach Deutschland durchgeschlagen zu haben, von einem gefährlichen Virus hat er genauso wenig gehört wie die meisten Deutschen.

Ein Jahr später sitzt der 39-Jährige in Bonn in der Zentralen Unterbringungseinrichtung, wie es im Bürokratendeutsch heißt, mit einer OP-Maske über Nase und Mund, und sagt: "Ich bin glücklich, gerade in Corona-Zeiten hier zu sein. Die medizinische Versorgung im Irak ist katastrophal."

Al Jubouri wurde schon zweimal auf Corona getestet, beide Male negativ. Im Dezember gab es einen Ausbruch in der Unterkunft, über den ganzen Monat verteilt gab es 50 positive Fälle – das Virus findet in den beengten Flüchtlingsheimen den idealen Nährboden. Flugs wurde ein komplettes Stockwerk in eine Quarantänestation umfunktioniert. Weil es vorwiegend junge Flüchtlinge betraf, gab es keinen einzigen schwerwiegenden Verlauf.

Corona-Maßnahmen im Flüchtlingsheim erschweren Integration

Doch der Lockdown sorgt auch bei den zur Zeit mehr als 200 Bewohnern für Kollateralschäden. Besser gesagt: vor allem hier. Lauftreff und Fußballtraining – gestrichen. Besuche in der Bibliothek – ausgesetzt. Kindergarten - nur noch in drei Gruppen mit jeweils acht Kindern. Treffen in der Teestube – verboten.

Und Al Jubouri, der an der Universität Bagdad Informatik studiert hat, kommt nicht so richtig vom Fleck. Der Deutschkurs findet nur noch online statt, sein Verfahren stockt, ein Arbeitsplatz scheint in weiter Ferne. Der Iraker macht aus der Not eine Tugend. "Ich habe mich dann hier freiwillig in der Küche gemeldet und beim Chefkoch eine Ausbildung gemacht."

Hat Deutschland in der Coronakrise etwa im ganzen Trubel um Intensivbettenbelegung, Maskenpflicht und Impfstoffbeschaffung zu wenig an seine Flüchtlinge gedacht? Memet Kilic findet: schon.

Doppelte Belastung: Angst vor Corona und Abschiebung

"Flüchtlinge sind die Gruppe, die am meisten unter Corona leiden und gleichzeitig in Vergessenheit geraten sind", sagt der Vorsitzende des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates, BZI, "und naturgemäß können sie sich nicht so gut artikulieren und sind vor allem erst einmal froh, dass sie Leib und Leben gerettet haben."

Memet Kilic, Vorsitzender BZI
"Auch wenn die Menschen psychologisch angeschlagen sind, darf man das Thema Flüchtlinge nicht aussparen" - Memet KilicBild: privat

Seit über zwei Jahrzehnten gibt der Rechtsanwalt den Flüchtlingen eine Stimme, 1998 hat Kilic auch den BZI mitgegründet. Derzeit beschäftigt ihn vor allem ein Fall aus Nordrhein-Westfalen: ein Polizist, der aus der Türkei geflohen ist, weil er dort gefoltert wurde. "Wir haben versucht, sein Asylverfahren zu beschleunigen, aber wegen Corona bekommen wir nicht einmal einen Termin für eine Anhörung."

Flüchtlinge leiden somit unter einer doppelten Belastung: Zu der Angst, abgeschoben zu werden, kommt die Furcht vor einer Ansteckung durch das Virus und die psychischen Folgen des Lockdowns. Memet Kilic fordert deswegen ein Gipfeltreffen mit Vertretern von Bund, Ländern und Nichtregierungsorganisationen, um die dringendsten Probleme und Herausforderungen anzupacken.

"Vor allem Familien mit Kindern dezentral unterbringen und nicht in Flüchtlingsheimen. Die Heime digital so ausstatten, dass die Kinder, die noch dort sind, am Schulunterricht teilnehmen können und die Erwachsenen am Sprachunterricht. Und die Mini-Jobs in die Kurzarbeiterregelung aufnehmen, so dass sie nicht gekündigt werden können.”

Vor allem Flüchtlinge von Arbeitsverlust betroffen

Wer mehr zum Thema Flüchtlinge und ihre Integration am Arbeitsmarkt wissen will, muss Yvonne Giesing fragen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ifo-Institut in München hat jüngst eine Studie zu dem Thema verfasst. Das Ergebnis: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Corona-Krise trifft besonders Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft.

Yvonne Giesing
"Durch ihre teils traumatischen Erlebnisse sind Flüchtlinge von einem geregelten Tagesablauf abhängig" - Yvonne GiesingBild: Yvonne Giesing

"Da Immigranten und Flüchtlinge oft bereits vor der Krise in prekären Verhältnissen beschäftigt waren, durch befristete Verträge und Zeitarbeit, sind sie oft die ersten, die ihre Arbeit verlieren", sagt Giesing. "Laut der Bundesagentur für Arbeit ist die Arbeitslosigkeit bei Flüchtlingen 2020 überproportional angestiegen."

Jobs als Erntehelfer, in der Schlachterei oder in der Hotelreinigung fielen als erste der Corona-Pandemie zum Opfer. Yvonne Giesing sieht gleichzeitig das Problem, dass die Flüchtlinge derzeit in keine Arbeit einsteigen können. "Für viele würde das gerade jetzt beginnen, aber unter den aktuellen Bedingungen ist es besonders schwer."

Abschiebungen trotz Corona wieder im Normalbetrieb

All dies hat auch Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus, erklärt Wiebke Judith. Die rechtspolitische Referentin bei Pro Asyl erläutert den Teufelskreis, in dem die Flüchtlinge stecken: "Wenn man nur eine Duldung hat und hofft, eine sogenannte Beschäftigungsduldung zu bekommen, muss man relativ lange am Stück gearbeitet haben." Kein Job gleich kein Einkommen gleich keine Bleibeperspektive.

Wiebke Judith,
"Bekommen Asylbewerber ablehnende Bescheide, ist es jetzt schwerer, Kontakt mit Anwälten zu halten" - Wiebke JudithBild: Wiebke Judith,

Judith stößt aber vor allem bitter auf, dass die deutschen Behörden auf der anderen Seite beim Thema Abschiebungen Business as usual betreiben. "Wir sind mittlerweile wieder bei einem Normalbetrieb angelangt, regelmäßig finden Sammelabschiebungen in die verschiedensten Länder statt."

Zunächst starteten wieder Flugzeuge nach Osteuropa, später nach Afrika und Pakistan und seit Dezember auch wieder nach Afghanistan. Trotz Corona. Für Wiebke Judith vollkommen absurd und zynisch: "Einerseits wird gesagt, alle Reisen möglichst zu unterbinden, aber dann sind solche Zwangsreisen eben doch möglich, und das auch mit einem sehr hohen Aufwand, mit mehreren Polizisten und Ärzten an Bord."