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Chodorkowskis Fall

29. Dezember 2010

Schuldig! Das steht gleich zu Anfang der Urteilsverkündung fest. Und nun: 14 Jahre Haft, so lange muss Michail Chodorkowski hinter Gitter. Beobachter sind sich einig: Das Verfahren war ein politischer Schauprozess.

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Fernschreiber Moskau (Grafik: DW)
Bild: DW

Vieles ist denkwürdig an diesem Urteil, dem zweiten gegen Michail Chodorkowski und seinen Geschäftspartner Platon Lebedew. Man führt die Angeklagten wie Schwerverbrecher in Handschellen vor Gericht. Streng bewacht von Spezialpolizisten mit Kalaschnikows im Anschlag. Richter Wiktor Danilkin schaut kaum auf, als er das Urteil verliest. Leise, schwer verständlich und irrwitzig schnell spult er die etwa 800 Seiten starke Urteilsbegründung herunter. Es scheint, als schäme er sich selbst für das, was er da vorträgt.

Denn die Anklage klingt absurd: Chodorkowski und sein Geschäftspartner sollen über 200 Millionen Tonnen Öl gestohlen und dazu eine kriminelle Vereinigung gegründet haben. Öl, das ihre eigene Firma gefördert hat. Öl, für das sie laut erstem Urteil von 2005 keine Steuern gezahlt haben sollen. Selbst einstige Staatsminister, die als Zeugen geladen waren, halten das für schwer möglich.

Doch Richter Wiktor Danilkin gibt der Anklage Recht. Leise, hastig und nur anscheinend unbeeindruckt von den lautstarken Protesten Hunderter, die von der Straße in den Gerichtsaal Nr. 7 heraufdringen. Größer als die Scham ist scheinbar die Furcht des Richters. Die Furcht, ein anderes Urteil zu verkünden, einen Freispruch.

Im russischen Internet gingen Gerüchte um, Richter Danilkin sei am Tag vor der Urteilsverkündung vom Innlandsgeheimdienst FSB vorgeladen worden. Die Agenten hätten versucht, ihn zu einem scharfen Urteil zu drängen. Sicher ist, dass Russlands starker Mann, Premier Wladimir Putin, noch vor Kurzem im Staatsfernsehen auf den Tisch gehauen hatte: man könne davon ausgehen, dass die Anklagepunkte bewiesen seien. Und: "Ein Dieb gehört ins Gefängnis."

Rückblick

Das alles macht den Eindruck, die Staatsmacht sei nervös. Offenbar fürchtet sie Michail Chodorkowski noch immer. Der war einst Russlands reichster Mann. Er hatte Milliarden gescheffelt in den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Ein Oligarch der ersten Stunde, gerissen, skrupellos und sicher nicht immer gesetzestreu. Einer von vielen damals, die beste Drähte hatten zu den Eliten in Politik und Wirtschaft. Einer, der da war, als es darum ging, Russlands große Staatskonzerne zu übernehmen, weil das Land bankrott war.

Chodorkowski ist sicher kein Engel. Doch zum Verhängnis wurde ihm etwas anderes, da sind sich Prozessbeobachter einig. Mit seinen Milliarden hatte Chodorkowski irgendwann begonnen, sich in die Politik einzumischen. Er griff den damaligen Kremlchef Wladimir Putin an, geißelte den zunehmenden Staatseinfluss auf die Wirtschaft und die Korruption. Er förderte Oppositionskräfte. Und er strebte Fusionen mit westlichen Ölkonzernen an.

2003 platzt Putin offenbar der Kragen. Chodorkowski kommt in Haft. Offiziell wegen Steuerhinterziehung. 2005 verurteilt ihn ein Moskauer Gericht zu acht Jahren Lager in Sibirien. Schon damals gibt es weltweit Proteste. Das Verfahren sei politisch motiviert. Ein Rachefeldzug des einstigen Kremlchefs Putin. Nun wird der Putin- Gegner also weiter sitzen.

Symbolfigur Chodorkowski

Dabei schadet Chodorkowski in Gefangenschaft den Mächtigen mehr, als in Freiheit. Auch das Urteil im zweiten Prozess löst international heftige Kritik aus. Und in Russlands großen Städten wie Moskau oder Petersburg hat der Ex-Yukos-Chef viele Unterstützer. Der liberalen oder intellektuellen Kreml-Opposition ist er längst Symbolfigur für alles, was am "System Putin" falsch ist: die autoritäre "Macht-Vertikale", die erdrückende Korruption und der allgegenwärtige "Rechtsnihilismus".

Viele Russen sind des Falls Chodorkowski aber auch müde. Die erste Verurteilung 2005 empfanden die meisten noch als gerechte Strafe. Als Strafe für einen, der sich in "den wilden 90ern" mit teils krummen Geschäften bereichert hat. Der sich skrupellos bedient hat am "Eigentum" des einst sowjetischen, russischen Volkes. Doch das jetzige Urteil versteht kaum einer. Und viele denken, man solle es doch einfach gut sein lassen mit Michail Chodorkowski.

Zudem haben viele in Moskau gerade ganz andere Sorgen. Wie kommen wir in unseren wohlverdienten Neujahrsurlaub? Nach "Egipet" oder nach "Kurschäwell"? Das Winterwetter schlägt Kapriolen, auch in der russischen Hauptstadt. Und es behindert den Flugverkehr im eigentlich Frost erprobten Russland stark. Darum sollen sich die Mächtigen mal lieber kümmern!

Autor: Markus Reher, Moskau

Redaktion: Michael Borgers