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Chinas Aufholjagd

Thomas Kohlmann14. Juni 2015

Der Umbau der chinesischen Volkswirtschaft zur globalen Industriemacht ist das zentrale Projekt der Führung unter Xi Jinping. Doch der Aufstieg in die Liga der Industriemächte könnte länger dauern, als Peking lieb ist.

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Shanghai Turm Shanghai Welt Finanz Zentrum China
Bild: picture-alliance/dpa

Chinas Wirtschaft muss sich wandeln - darüber sind sich Politiker und Wirtschaftsexperten im Reich der Mitte weitgehend einig. Das Land soll nicht mehr Werkbank der Welt, sondern Hersteller industrieller Markenprodukte werden, die bei den Verbrauchern in China und im Ausland begehrt sind. Doch wie soll man die ehrgeizigen Ziele der Staats- und Parteiführung erreichen, die China bis 2045 zu einer der führenden Industrienationen der Welt weiterentwickeln will? Wenn man einer neuen chinesischen Studie glauben will, dann ist dieser Zeitplan alles andere als realistisch.

Der aktuelle Bericht zur Modernisierung Chinas des "Center for Modernization Research" stellt ernüchternd fest, dass China in seiner industriellen Entwicklung Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich 100 Jahre hinterherhinkt. Auf 80 Jahre bezifferte der Co-Autor der Studie, Zhao Xijun, den Rückstand im Vergleich zu den USA, Dänemark und Italien. Und gegenüber Schweden, Norwegen, Österreich, Spanien und Japan habe China immerhin noch 60 Jahre aufzuholen.

Kein Wunder, dass das ernüchternde Urteil, das die Modernisierungsforscher ihrer eigenen Volkswirtschaft ausstellen, hohe Wellen schlug - schließlich ist das Institut nicht irgendeine regimekritische Denkfabrik, sondern direkt der Chinesischen Akademie der Wissenschaften angegliedert. Kaum ein anderes Ergebnis der 500-Seiten-Studie wurde im Netz so heftig diskutiert wie der festgestellte "100-Jahre-Rückstand" auf Deutschland. Im Kurznachrichtendienst Weibo, dem chinesischen Twitter-Pendant, gab es ironische und selbstkritische, aber auch empörte Kommentare. "Die Chinesische Akademie der Wissenschaften hat endlich 'des Kaisers neue Kleider' aufgezeigt!", spottete ein User mit dem Namen Education. Nutzer Limaojlu stellte lakonisch fest: "Das heißt, wir befinden uns in der Zeit, als Carl Benz angefangen hat, Autos zu bauen. Na dann! Solange wir uns richtig anstrengen, können wir die Tage zählen, bis wir Deutschland eingeholt haben."

Screenshot von Weibo
Hinkt China Deutschland in der Industrialisierung um 100 Jahre hinterher? Userkommentare auf Weibo.comBild: SINA Weibo

Mehr Bescheidenheit oder Realitätssinn?

Während Nutzer Youlezhitianxia findet: "Na, ein bisschen Demut schadet doch nicht", postet User Mingjunzhiheng trotzig: "So ein Unsinn. Selbst die Deutschen möchten jetzt unsere Hochgeschwindigkeitszüge kaufen und wir sollen hinter ihnen her hinken?"

Genau das sei aber das Problem der chinesischen Volkswirtschaft, konstatieren die Autoren der Studie. Nur in einzelnen Bereichen wie etwa in der Bahnbranche mit ihren Hochgeschwindigkeitszügen habe China bislang den Anschluss an die Weltspitze geschafft. Wenn man die Entwicklung bei Produktivität und Wertschöpfung und den Anteil der Industriejobs an der Gesamtbevölkerung zugrunde lege, dann habe China als Industriemacht 2010 dort gestanden, wo sich Deutschland kurz vor dem Ersten Weltkrieg befand.

Erklärungsversuche der Autoren

Der Hauptautor des "2015 China Modernization Report", He Chuanqi, reagierte offenbar auch auf Kritik aus den oberen Etagen von Partei- und Staatsführung und relativierte auf people.com.cn den 100-Jahre-Vergleich. "Es ist unvollständig und ungenau, zu solch einem Schluss zu kommen, ohne dass man darauf eingeht, welche industriellen Indikatoren benutzt wurden", erklärte He Chuanqi. Lege man andere Maßstäbe an, in denen China weiter entwickelt sei, dann würde der Abstand weit geringer ausfallen. "Doch China braucht mehr erfolgreiche Faktoren als Hochgeschwindigkeitszüge", unterstrich He.

Chinas Präsident Xi Jinping (li.) und Premier Li Keqiang auf dem Volkskongress im März 2015, Foto: Reuters
Chinas Präsident Xi Jinping (li.) und Premier Li Keqiang auf dem Volkskongress im März 2015Bild: Reuters/K. Kyung-Hoon

Die Ergebnisse der Studie sollten vor allem den politischen Entscheidungsträgern dazu dienen, den wahren Stand der chinesischen Volkswirtschaft und die richtigen Lösungen auf dem Weg zur Industrienation zu erkennen, sagte He.

Alle Kurven zeigen nach unten

Da rennt er bei Jörg Wuttke offene Türen ein. Der Chef der EU-Handelskammer in Peking hat immer wieder spürbare Reformen statt "Propaganda-Losungen und Kampagnen mit leeren Worten" von den Entscheidern in Peking gefordert. Gerade hat die Befragung europäischer Firmen in China ergeben, dass immer mehr Unternehmen dort frustriert sind über die Steine, die ihnen von chinesischer Seite in den Weg gelegt werden. Während 2011 noch knapp 80 Prozent die Aussichten für ihr China-Geschäft positiv bewerteten, waren es 2014 noch rund 70, aber aktuell nur noch weniger als 60 Prozent.

Jörg Wuttke, EU-Handelskammer-Chef in Peking, Foto: dpa
Jörg Wuttke, EU-Handelskammer-Chef in PekingBild: picture-alliance/dpa

Mit Kritik tun sich nicht nur Chinas Mächtige traditionell schwer. Für Weibo-User Xiaoluo_11337 ist die Studie von He Chuanqi und seinen Mitautoren "ein Beweis dafür, was passieren wird, wenn man uneingeschränkte Meinungsfreiheit erlaubt!" Die Industrialisierung Chinas und den Erfolg der Arbeiterklasse so schwarz zu malen wie in der Studie, sollte "einfach nicht geduldet werden. Dass wir hinterherhinken, mag zwar den Tatsachen entsprechen, aber wir dürfen nicht die chinesische Industrie so lächerlich machen wie hier."

Weibo-Nutzer Qichujiqin erinnert trotzig daran, dass China einst dem mittelalterlichen Europa in vielen Belangen überlegen war: "Vor 1000 Jahren hinkte die Welt uns hunderte Jahre hinterher."

Doch bei vielen Wortmeldungen - wie der von User Dongtayuanzhang - schimmert die Erkenntnis durch, dass man in China den Tatsachen ins Auge sehen muss, um weiter zu kommen. "Die richtige Einsicht ist der erste Schritt zur Verbesserung. Auf geht's zur Aufholjagd! Aber bitte nicht nochmal mit einem 'großen Sprung nach vorn', fordert Dongtayuanzhang. Die von Mao in den späten 1950er Jahren angeordnete Industrialisierung Chinas war nicht nur ein Fehlschlag - der "Große Sprung nach vorn" kostete zwischen 1957 und 1962 mehr als 40 Millionen Menschen das Leben und warf China um Jahrzehnte zurück. Beim Auftakt der Turbo-Industrialisierung hatte der Große Vorsitzende der Kommunistischen Partei im November 1957 noch vollmundig erklärt, sein Land werde in 15 Jahren Großbritannien überholt haben.

Arbeiter vor neuem Stahlwerk in Wuhan, März 1958 Foto: AP
Maos 'Großer Sprung': Stahlwerke wurden gebaut, während Millionen verhungertenBild: AP

Mitarbeit: Yan Jun