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PolitikAsien

Teheran reagiert mit Brutalität und Zensur

Youhanna Najdi
23. Oktober 2022

Die Führung im Iran agiert angesichts der für sie bedrohlichen Protestwelle mit großer Härte, die auch vor Schwachen und Unbeteiligten nicht Halt macht.

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Angehörige der regierungstreuen Basidsch-Miliz auf der Straße im Iran
Angehörige der regierungstreuen Basidsch-Miliz auf der Straße im IranBild: SalamPix/abaca/picture alliance

Seit über einem Monat hält die Protestwelle in verschiedenen Teilen Irans, ausgelöst durch den Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam, an. So fiel am Sonntag in vielen Schulen, mit Schwerpunkt in den nordwestlichen kurdischen  Provinzen, der Unterricht aus. Der Boykott war von der größten Lehrergewerkschaft des Landes organisiert worden.

Auch an der Sharif-Universität in Teheran kam es erneut zu Protestaktionen, Studierende rissen die Trennwände nieder, welche Männer und Frauen in der Mensa voneinander trennen. Unterdessen hat sich eine anonyme Hackergruppe Zugriff auf Daten und E-Mails der iranischen Atomenergie-Organisation mit Bezug zum Atomreaktor in Buschehr verschafft und auf der Plattform Telegram veröffentlicht, meldet die Nachrichtenagentur AP. Die Gruppe verlangt die Freilassung politischer Gefangener im Zusammenhang mit den Protesten.   

Bislang größte Herausforderung des Systems

Insbesondere die breite gesellschaftliche Resonanz der Protestbewegung fordert die Führung und das theokratische System Irans noch stärker heraus als die vorangegangenen Protestwellen: 2009 kam es zu monatelangen Protesten der sogenannten "grünen Bewegung", nachdem Präsident Mahmud Achmadineschad in einer umstrittenen Wahl wiedergewählt wurde, im Dezember 2017 und November 2019 waren es vor allem wirtschaftliche Gründe, die die Menschen auf die Straße trieben.

Bewaffnete Polizeipräsenz auf der Straße im Iran
Bewaffnete Polizeipräsenz auf der Straße im Iran Bild: SalamPix/abaca/picture alliance

In der Islamischen Republik gibt es drei Sicherheitsebenen, um Proteste auf der Straße zu unterdrücken. Zunächst stellt sich die reguläre Polizei den Demonstranten entgegen; wenn sie nicht in der Lage ist, diese zu zerstreuen, treten die Revolutionswächter und ihre Untergruppe, die paramilitärische Freiwilligenmiliz Basidsch-e Mostaz'afin, kurz Basidschi, auf den Plan. Wenn sich die Proteste dennoch ausweiten, kommen inoffizielle Sicherheitskräfte, die keine Uniformen tragen, den Basidschi und der Polizei zu Hilfe.

Die Intensität und das Ausmaß der Proteste gegen den Tod von Mahsa Amini im Iran haben dazu geführt, dass alle drei Sicherheitsebenen sehr schnell mobilisiert wurden. Das wichtigste Merkmal der Unterdrückung der aktuellen Proteste ist die intensive und offene Gewalt auf allen diesen Ebenen. In den sozialen Netzwerken wurden zahlreiche Bilder und Videos veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie Sicherheitsbeamte gezielt auf Demonstranten schießen, Demonstranten verprügeln, Tränengas auf fahrende Autos abfeuern, in Fenster von Wohnhäusern schießen und auf unbeteiligte Passanten, mit Gewalt in Häuser eindringen, um Oppositionelle festzunehmen.

Bandbreite von tödlichen Waffen

Ein Teilnehmer an den Protesten, der bereits an den Demonstrationen 2009 teilgenommen hat und einige Monate im Gefängnis saß, sagt im Gespräch mit der DW: "Die Sicherheitsbeamten schießen mit regulären tödlichen Waffen auf die Leute. Sie haben aber auch Luftdruckwaffen mit zwei Arten von Munition im Einsatz: Eine davon ist extrem schmerzhaft, und die andere kann, wenn sie aus nächster Nähe abgefeuert wird, zur Erblindung oder sogar zum Tod führen."

Fahrzeug von Sicherheitskräften fährt auf ein Schulgelände in der Stadt Bukan
Fahrzeug von Sicherheitskräften fährt auf ein Schulgelände in der Stadt BukanBild: UGC

Die Islamische Republik gibt keine genauen Zahlen der bei den Einsätzen ihrer Sicherheitskräfte getöteten und verhafteten Personen an. Laut Menschenrechtsorganisationen kamen bisher mehr als 240 Menschen in verschiedenen Städten des Irans im Zusammenhang mit den Protesten ums Leben. Nach Angaben von Amnesty International befinden sich darunter mindestens 23 Minderjährige.

Dem Augenzeugen zufolge üben die Sicherheitskräfte keine Zurückhaltung gegenüber Minderjährigen und Alten, er sieht darin einen Unterschied zum Vorgehen bei den früheren Protesten: "Ich habe oft gesehen, wie hart sie Menschen mit einem Schlagstock auf den Kopf und ins Gesicht schlagen, sodass sie zumindest schwere Verletzungen davontragen."

Iranische Kinder in militärischem Tarnanzug und mit Schutzschilden
Offenbar schickt Teheran auch Kinder in den Straßenkampf gegen ProtestiererBild: Factnameh

Offensichtlich reichen die Kräfte aus den genannten drei Sicherheitsebenen nicht aus, um der aktuellen Proteste Herr zu werden. Deshalb hat die iranische Regierung zusätzlich Jugendliche und Schlägertrupps und sogar Kinder rekrutiert. "Ich habe die Schlägertypen unter den Sicherheitskräften gesehen, die Tattoos mit Gefängnisbezug auf ihren Körpern hatten. Manche davon waren sogar bewaffnet", sagte der ehemalige politische Gefangene. Bilder im Internet zeigen Kinder in Armeeuniformen mit Schlagstöcken und Schutzschilden auf der Straße.

Internetzugang stetig erschwert

Der Kampf zwischen der Führung des Landes und ihren Gegnern spielt sich nicht nur im physischen Raum auf der Straße, dem Campus oder in Klassenzimmern ab, sondern auch im Internet. Die Islamische Republik betrachtet die sozialen Netzwerke als potentielle Gefahr für das herrschende System, obwohl viele Amtsträger bis hinauf zum geistlichen Führer Chamenei offizielle Konten unterhalten und in diesen Netzwerken sehr aktiv sind.

Iran | Kommandeure der Revolutionsgarde der Islamischen Republik
Kommandeure der Revolutionswächter: Machtstütze des religiösen Führers Chamenei Bild: irna

Zur Bekämpfung der Regierungsgegner und für Propagandazwecke sind nach Angaben der Revolutionswächter über 2000 sogenannte "Cyber-Bataillone" im Einsatz. Als sich die Proteste ausbreiteten, wurden im Iran mindestens zehn bekannte Cyberspace-Aktivisten und Verfechter der Internetfreiheit verhaftet, darunter der Menschenrechtsaktivist Hossein Ronaghi, der für das Recht auf freie Meinungsäußerung im Internet im Iran kämpft. Inzwischen sind alle gängigen Social-Media-Plattformen nur noch via VPN erreichbar, also Facebook, Telegram, YouTube, Instagram und WhatsApp. Insbesondere die Blockade von Instagram ist für Millionen Iraner, die diese Plattform für alle möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten nutzen, eine große Einschränkung. Laut dem jüngsten Bericht der amerikanischen NGO "Freedom House" sind im Iran nach China und Myanmar die meisten Internetbeschränkungen in Kraft.