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Gesellschaft

Mit dem Skateboard gegen Kriminalität

17. November 2021

Der passionierte Skater Sandro "Testinha" gibt sozial benachteiligten Kindern am Rand von São Paulo kostenlosen Skate-Unterricht. Neben dem Sport an sich sollen sie auch Teamgeist, Selbstbewusstsein und Disziplin lernen.

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Brasilien | NGO Social Skate
Wegen Corona trainieren die Kinder und Jugendlichen derzeit in Gruppen von maximal 15

Wenn die Kinder und Jugendlichen zu Sandro Soares' kostenlosem Skate-Unterricht kommen, klopfen sie meistens mit ihren Skateboards an sein Tor. Seit Juni bietet Soares - von den meisten nur "Testinha" genannt - wieder mehrmals die Woche Trainings an, nachdem sie wegen der Corona-Pandemie viele Monate ausgefallen waren.

Unterstützung bekommt der 43-Jährige von seiner Frau Leila, die Pädagogin ist. Bevor die Gruppe zusammen zum nahe gelegenen Sportplatz läuft, verteilt das Paar oft Snacks und Getränke - eine wichtige Stärkung vor dem Sport. Am Sportplatz angekommen, werden erst einmal kleine Rampen und andere Hindernisse aufgestellt, die Kinder wärmen sich auf. Dann verteilen sich die mehr und die weniger erfahrenen Skaterinnen und Skater auf verschiedene Seiten des Platzes - und los geht's. 

Brasilien | NGO Social Skate
Sandro Soares "Testinha"

2011, als Sandro und Leila die spendenfinanzierte Nichtregierungsorganisation "Social Skate" gerade gegründet hatten und einen geeigneten Standort für den Unterricht suchten, war der Sportplatz nur ein heruntergekommener Ort, an dem Drogendealer herumhingen. Doch "mit dem Skateboard unter dem Arm" habe er sich ein Herz gefasst und die Dealer angesprochen, erzählt Testinha. "Ich habe ihnen angeboten, dass auch ihre eigenen Kinder hier umsonst skaten lernen können. Das hat sie wohl überzeugt." Sie willigten ein, dort keine Drogen mehr zu verkaufen.

Skateboarding als Präventionsarbeit 

Sozial benachteiligten Kindern umsonst das Skaten beibringen, das ist die Grundidee von "Social Skate". "Es gibt ansonsten in der Gegend kaum kostenlose Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche“, klagt Testinha. Dabei seien die dringend notwendig, denn einen bezahlten Sport- oder etwa Musikunterricht für den Nachwuchs könne sich hier, im ärmlichen Viertel Calmon Viana, kaum jemand leisten. Calmon Viana gehört zu Poá, einer Kleinstadt in der Metropolregion São Paulo. 

Städte wie Poá gibt es viele in Brasilien - mit sozialen Problemen wie Kriminalität, Gewalt und Arbeitslosigkeit. Die Kinder und Jugendlichen hier hat es deshalb umso härter getroffen, dass der Skate-Unterricht wegen Corona so lange unterbrochen blieb. Weil dadurch für sie auch kostenlose Mahlzeiten bei "Social Skate" und in der Schule wegfielen, haben Sandro Testinha und seine Helfer in diesen Phasen Lebensmittel verteilt. 

Brasilien | NGO Social Skate
Sandro, Leila und ihre Crew geben den Kindern Hilfestellung beim Skaten

Testinha kann auf lange Jahre der Arbeit mit Jugendlichen und mit Skateboarding zurückblicken - vor der Gründung von "Social Skate" arbeitete er zehn Jahre lang in Jugendstrafanstalten, sozusagen als Skateboard fahrender Sozialarbeiter. Dort konnte er sehen, welchen Lebensweg sie einschlagen, wenn sie schlechten Einflüssen ausgeliefert sind und niemand ihnen andere Perspektiven aufzeigt. Und er erkannte: "Es ist doch viel besser, wenn wir verhindern, dass Kinder überhaupt auf die schiefe Bahn geraten, als dass wir erst dann ansetzen, wenn sie schon im Gefängnis sind." 

Hinfallen und wieder aufstehen

Durch das Skaten sollen die Kinder spielerisch auch Disziplin, Selbstbewusstsein und soziale Kompetenzen erlernen. Rafael Vinicius da Silva ist schon seit ein paar Jahren dabei. Als die Deutsche Welle vergangenes Jahr wenige Wochen vor Beginn der Corona-Pandemie die Gelegenheit hat, beim Skateboard-Unterricht dabei zu sein, erklärt er: "Beim Skaten ist es oft so, dass man einen Trick versucht und ihn erst einmal nicht hinbekommt. Aber man gibt nicht auf, versucht es ein zweites, ein drittes Mal." Dieses Hinfallen und Wieder-Aufstehen, dieses Nicht-Aufgeben könne man auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Auch in Sachen Schüchternheit wäre er ohne das Skaten heute ein anderer Mensch, glaubt der Jugendliche, denn "wenn du skaten willst, bist du gezwungen, das Haus zu verlassen. Du lernst oft neue Leute kennen". 

Brasilien | NGO Social Skate
Das Skaten soll auch das Selbstbewusstsein stärken

Zum Abschluss des Skate-Unterrichts setzt sich die Gruppe jedes Mal zu einer Gesprächsrunde zusammen - und spricht darüber, was gut gelaufen ist und was nicht. Manchmal finden auch größere Themen Platz, etwa, was es heißt, das Gegenüber zu respektieren. Oder warum es wichtig ist, sich nicht nur auf dem Skateboard, sondern auch in der Schule anzustrengen. Luana Alcantara da Costa erzählt der DW: "Wenn man gute Schulnoten hat, darf man auch manchmal an einem Ausflug teilnehmen oder Schuhe oder ein Kleidungsstück aussuchen." Letztere erhält "Social Skate" - so wie auch Skateboards - als Spenden. 

Neben zahlreichen Kooperationen mit anderen NGOs und Aktionen mit bekannten Skatern erhielt "Social Skate" zuletzt Unterstützung von Brasiliens neuestem Skateboard-Superstar Rayssa Leal. Die 13-Jährige holte nicht nur olympisches Silber, sondern gewann auch den "International Visa Award" für Athleten, die am besten die olympischen Werte repräsentieren. Rayssa konnte sich aussuchen, an welche soziale Einrichtung das Preisgeld von 50.000 US-Dollar gehen sollte - und wählte "Social Skate". 

Kinderarmut in Brasilien weit verbreitet 

Sandro Testinha schätzt, dass über die Jahre bereits mehr als 1000 Kinder am kostenlosen Skateboard-Unterricht teilgenommen haben. Seine Arbeit sieht er als Investition in die Zukunft. Sie sei auch deshalb notwendig, weil die öffentliche Hand Kinder und Jugendliche wie die in Calmon Viana vernachlässige. Laut der brasilianischen Stiftung Abrinq lebt in Südamerikas bevölkerungsreichstem Land fast die Hälfte aller Kinder von 0 bis 14 Jahren in Armut.

Brasilien  Social Skate Sandro Soares Testinha
Für die Kinder in der Gegend gibt es außer "Social Skate" kaum kostenlose FreizeitangeboteBild: DW/I. Eisele

Testinha kritisiert, dass angesichts der Unfähigkeit der brasilianischen Politik NGOs Aufgaben übernehmen müssen, um die sich eigentlich der Staat kümmern sollte. Umso stolzer und hoffnungsvoller macht es ihn, dass das Land trotzdem immer wieder Skateboard-Talente hervorbringt. "Ich habe vor, das hier weiterzumachen, bis ich alt bin", erklärt er. "Das ist meine Mission."

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis