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Brasilien: kommende oder konzeptlose Regionalmacht?

Christiane Wolters20. Juni 2005

Die größte innenpolitische Krise seiner Amtszeit fordert Lula da Silvas ganze Aufmerksamkeit. Bleibt dadurch sein großer außenpolitischer Traum von Brasilien als künftiger Hegemonialmacht auf der Strecke?

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Top oder Flop? Präsident Lula hat große außenpolitische ZieleBild: AP

Um Worte ist Luiz Inácio "Lula" da Silva selten verlegen, vor allem nicht, wenn es um seine außenpolitischen Ambitionen geht. "Wir müssen unseren Nachbarn Argentinien, Paraguay und Uruguay helfen, sich zu entwickeln. Das ist die Aufgabe des reichsten Landes in der Region", verkündete er etwa Mitte Mai in seiner zweiwöchentlichen Radiosendung "Frühstück mit dem Präsidenten". Die Außenpolitik ist sein Steckenpferd, seit der ehemalige Gewerkschafter und Marxist vor rund zweieinhalb Jahren das höchste Staatsamt antrat.

Derzeit muss er sich allerdings verstärkt um das politische Tagesgeschäft in Brasilien kümmern. Seit Anfang Juni erregt ein Korruptionsskandal die Gemüter, in den Politiker aus Lulas Arbeiterpartei PT und verbündeter Gruppierungen verwickelt sein sollen. Der PT, die über keine eigene Mehrheit im Parlament verfügt, wird Stimmenkauf vorgeworfen. Am Donnerstag (16.06.) trat Lulas engster Berater, der Kabinetts-Stabschef Jose Dirceu zurück - die Opposition hatte ihm vorgeworfen, von den Bestechungen gewusst zu haben.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Favela (Innen)
Viele Probleme im Innern: Armut in einer FavelaBild: AP

Ironie der Geschichte: Lula begrüßte in derselben Woche, in der die Vorwürfe erstmals öffentlich wurden, internationale UN-Experten zum "Globalen Forum gegen die Korruption" in der Hauptstadt Brasilia - ein Sinnbild auch für seine Politik der vergangenen Jahre, in der Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Während seit Monaten innenpolitische Probleme Schlagzeilen machen und Lulas Beliebtheit rapide gesunken ist, bastelt er weiter an seinem ehrgeizigsten außenpolitischem Projekt: der Etablierung Brasiliens als neue Hegemonialmacht.

"Lula hat die Außenpolitik zu einem der zentralen Aktionsfelder erkoren", erklärt Günther Maihold, Lateinamerika-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ein Merkmal dieser neuen Außenpolitik ist die sogenannte "Nachbarschaftspolitik": "Das heißt, Brasilien bemüht sich um die Stabilisierung der Nachbarstaaten und die Beilegung von Konflikten und wartet nicht darauf, dass andere tätig werden."

Nahost, Afrika, Asien - überall will Lula mitmischen

Doch Lulas außenpolitische Offensive beschränkt sich keineswegs "nur" auf Lateinamerika. "Brasilien hat eine sehr aktive Afrikapolitik begonnen, es hat einen Dialog mit der arabischen Welt angefangen und es kooperiert mit den neuen Mächten des Südens, zum Beispiel Indien und Südafrika", so Maihold.

Singh, Koizumi, Lula da Silva und Fischer, UN-Sicherheitsrat
Lula mit Verbündeten beim Kampf um einen ständigen Sitz im UN-WeltsicherheitsratBild: AP

Brasilien unter Lula will außenpolitisch überall mitspielen und vor allem ganz vorn. Das zeigt das Streben nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat genauso wie Brasiliens Engagement in der so genannten "Gruppe der 21", einem losen Verbund von Entwicklungs- und Schwellenländern. Bei der Welthandelskonferenz in Cancún 2003 entwickelte dieser sich zu einem ernsthaften Gegenspieler von USA und EU und hatte einen erheblichen Anteil am letztendlichen Scheitern der Verhandlungen.

"Großmachtpolitik" ohne Substanz?

Der Großmachtanspruch hat in Brasilien durchaus Tradition. Schon zur Zeit der Militärdiktatur in den 1970er Jahren manifestierte er sich etwa in dem Streben nach nuklearer Macht. Doch nach Ansicht von Günther Maihold hat sich unter Lula etwas Grundlegendes verändert. "Erstmals konnte Brasilien dadurch Anerkennung erringen, dass es Vorleistungen erbracht und Kosten übernommen hat, etwa durch die Bereitstellung von Friedenstruppen auf Haiti. Es geht nicht mehr wie früher nur darum, sich auf Kosten anderer zu positionieren."

Andreas Boeckh, Lateinamerika-Experte an der Universität Tübingen, sieht das anders. Für ihn gehört Brasilien momentan zum "Typ Hegemonialmacht, die ihre Vormachtstellung dazu nutzt, ihre Interessen rücksichtslos durchzusetzen". Außerdem bemängelt er die fehlende Substanz der "Rundum-Großmachtpolitik" Lulas. "Es wäre sicherlich klüger, sich auf die eigene Region zu konzentrieren und auch einmal Kompromisse mit Nachbarn, wie etwa Argentinien einzugehen", sagt Boeckh. Argentinien ist der traditionelle Gegenspieler Brasiliens im Streit um die Führungsrolle in Lateinamerika. Nach Ansicht von Beobachtern kann Brasilien ohnehin nur wegen der argentinischen Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden außenpolitischen Handlungsunfähigkeit des Landes eine so starke Position für sich beanspruchen.

Ist Lulas Reiselust auf Dauer tragbar? Ist die außenpolitische Bilanz Lulas nach gut zweieinhalb Jahren an der Macht also ähnlich mager wie die innenpolitische? Fest steht: Auf manchen Gebieten hat Lula, einer der reisefreudigsten Präsidenten der brasilianischen Geschichte, seine Ideen durchgesetzt. Man denke beispielsweise an die von den USA forcierte gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA): Durch seine Gegenposition brachte Brasilien praktisch das gesamte Konzept zum Scheitern. Andere Initiativen sind hingegen wirkungslos verpufft. Der erste Südamerika-Arabien-Gipfel im Mai etwa brachte nur wenige konkrete Ergebnisse.

Südamerika-Arabien-Gipfel in Brasilia
Erster Südamerika-Arabien-Gipfel in Brasilia: Viel heiße Luft?Bild: AP

"Im Moment muss man befürchten, dass Brasilien seine Rolle überdehnt", sagt Günther Maihold. "Man muss auch abwarten, wie es innenpolitisch weitergeht und ob Lula sich eine so starke außenpolitische Orientierung noch lange leisten kann."