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Zuflucht in Brasilien

Marina Estarque / Karina Gomes (apo)17. Januar 2014

Im größten Land Lateinamerikas hat sich die Zahl der Asylanträge in den letzten drei Jahren fast verzehnfacht. Die Regierung scheint mit dem Andrang von politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen überfordert zu sein.

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Rio de Janeiro Flüchtlinge (Foto: Acnur/F. Caffé)
Bild: ACNUR/ F.Caffé

Herzstillstand lautete die Diagnose. Doch ausgerechnet diese vermeintliche Todesursache erwies sich für Mohammed Y.S. als Tor zur Freiheit. Denn für den totgesagten syrischen Oppositionellen öffneten sich die Gefängnistüren, sein geschundener Körper wurde von den Gefängniswärtern auf die Straße geworfen. Es schien, als sei er schlicht ein weiteres Folteropfer des syrischen Bürgerkrieges.

Doch Mohammed Y.S. überlebte. Passanten transportierten den bewusstlosen Mann ins nächst gelegene Krankenhaus. Zwei Monate später verließ er seine Heimat mit einem Herzschrittmacher in der Brust in Richtung Türkei. Nach acht Monaten hielt er das begehrte Visum für Brasilien in der Hand. Seit Juli 2013 versucht der Elektroingenieur mit seiner Frau und seinen beiden Kindern einen Neuanfang in São Paulo.

Überlebenskampf auf der Straße

Politische Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder Afrika waren in den vergangenen Jahren in Brasilien eine Seltenheit. Das südamerikanische Schwellenland schien fernab von den Krisenherden der Welt zu liegen. Doch dies hat sich geändert. Zwischen 2010 und 2013 stieg die Zahl der Asylanträge von 566 auf 5200. Hinzu kommen Tausende von Einwanderern aus Haiti, Senegal, Angola, Liberia, Bolivien, Pakistan und Bangladesch.

Andrés Ramirez vom UN-Flüchtlingswerk ACNUR Foto: ACNUR/L.F.Godinho
Andrés Ramirez vom UN-Flüchtlingswerk ACNUR hilft Flüchtlingen bei Asylanträgen.Bild: ACNUR/L.F.Godinho

"Brasilien muss sich auf einen zunehmenden Andrang von Flüchtlingen vorbereiten", meint Andrés Ramirez, Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerkes in Brasilien (Acnur). Seit Ende 2013 verfügt das Hilfswerk in São Paulo über eine kleine Anlaufstelle. Eines der größten Probleme sind die fehlenden Notunterkünfte. "Viele Flüchtlinge schlafen tagelang auf der Straße, bevor sie Hilfe bekommen", weiß Ramirez.

Die Anerkennungsquote für politische Häftlinge ist in Brasilien gering. Nur 649 der insgesamt 5200 Asylgesuche wurden nach Angaben des brasilianischen Justizministeriums anerkannt. Der größte Gruppe davon, 283 erfolgreichen Anträge, kommt aus Syrien. An zweiter Stelle stehen die Flüchtlinge aus der Demokratischen Republik Kongo (106), dann folgen Kolumbien und Angola.

Von Bangladesch nach São Paulo

Das Land, aus dem im vergangenen Jahr die meisten Asylanträge kamen, war Bangladesch. Doch nur ein einziger der 1814 bengalischen Antragsteller wurde als politischer Flüchtling anerkannt. An zweiter Stelle folgte Senegal mit 868 Anträgen, von denen insgesamt vier genehmigt wurden. Auch bei Anträgen aus anderen Konfliktregionen wie Libanon, Guinea-Bissau und Somalia lag die Anerkennungsquote unter drei Prozent.

Die größte Gruppe aller Flüchtlinge jedoch, die rund 15.000 Haitianer, die sich in Brasilien aufhalten, erscheint in der offiziellen Asylstatistik überhaupt nicht. Rund 70 Einwanderer aus Haiti kommen täglich in der 10.000 Einwohner Stadt Brasileia im brasilianischen Bundesstaat Acre an der Grenze zu Peru an. Die meisten ziehen auf der Suche nach einer Arbeit weiter in den Süden des Landes nach São Paulo.

Haitianische Flüchtlinge in Brasilien. Foto: : Macelo Casal / ABR
Aus Mangel an Notunterkünften schlafen viele Haitianer auf der StraßeBild: Macelo Casal/ABR

Grenzen dichtmachen

Doch genau dieser inoffizielle Andrang ist nun zu einem drängenden politischen Problem geworden: In einem Aufsehen erregenden Hilferuf beantragte die Landesregierung des brasilianischen Bundesstaates Acre am Mittwoch (15.01.2014) beim brasilianischen Justizministerium die Erlaubnis, den Grenzübergang zum Nachbarland Peru in der Stadt Brasileia vorübergehend schließen zu dürfen.

"Das Auffanglager ist überfüllt, statt 300 Immigranten sind dort 1200 Haitianer untergebracht", rechtfertigte sich Nilson Mourão, Sekretär für Menschenrechte im Bundesstaat Acre, gegenüber der brasilianischen Tageszeitung "O Globo". Auch das Essen werde allmählich knapp.

Der Aufruf löste in Brasilien eine Debatte über die nationale Flüchtlingspolitik aus. Im Justizministerium in der Hauptstadt Brasília betonte man zunächst, Brasilien verfüge nicht über eine Tradition, Grenzen zu schließen. Stattdessen arbeite man seit November 2013 an einem nationalen Plan zur Integration von Einwanderern.

Der Nachholbedarf ist groß. "Die bürokratischen Hürden, die Flüchtlinge überwinden müssen, um ein Minimum an Selbstständigkeit im Land zu erreichen, sind enorm", erklärt Pfarrer Marcelo Monge, Direktor der Caritas in der Erzdiözese São Paulo, wo rund 80 Flüchtlingen pro Tag geholfen wird. "Die brasilianischen Behörden sind einfach nicht darauf vorbereitet, so viele Leute aufzunehmen", meint Monge.

Mohammed Y.S. Flüchtling Syrien im Sprachkurs. Foto: Marina Estarque
Integration: Der syrische Flüchtling Mohammed Y.S. lernt portugiesisch in seiner muslimischen Gemeinde in Sao PauloBild: Marina Estarque

Sprachkurs in der Moschee

Auch für Mohammed und seine Familie war der Anfang in Brasilien schwer. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Nationalitäten können syrische Flüchtlinge mit der Unterstützung ihrer Landsleute rechnen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingswerkes Acnur gehören in Brasilien rund drei Millionen Menschen zur Gruppe der syrischen Einwanderer.

Mohammeds Alltag spielt sich rund um die Moschee von Pari im Einwandererviertel Brás in São Paulo ab. Dort lernt er zusammen mit 70 anderen Landsleuten Portugiesisch, betet und bearbeitet die Webseiten der Gemeinde. Während seine Kinder sich bereits mit ihrer neuen Heimat angefreundet haben und in eine brasilianische Schule gehen, kreisen Mohammeds Gedanken um den Bürgerkrieg.

Sein Heimatort ist komplett zerstört, das Leben seines Bruders von ständigen Bombenangriffen bedroht. "Es gibt nichts zu essen, viele Menschen werden einfach auf offener Straße erschossen", berichtet er von den Telefonaten mit den in Syrien verbliebenen Familienangehörigen. "Ich muss mein Land wieder aufbauen", erklärt er, und weiß doch, dass eine Rückkehr zurzeit unmöglich ist.