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Bosnien-Herzegowina: Ein Tag in der Flüchtlingssiedlung

22. Juni 2006

Zehn Jahre nach dem Bosnien-Krieg sind zahlreiche Flüchtlinge immer noch in der Welt zerstreut. Viele leben in Flüchtlingslagern – ohne Perspektive, von allen vergessen, kämpfen sie täglich um ihre Existenz.

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Bosnische FlüchtlingsfamilieBild: AP

Die vierköpfige Familie von Nermina Smajlovic hat früher in Potocari bei Sreberenica gelebt. Heute ist diese 47-jährige Frau alleinerziehende Mutter und lebt in der Flüchtlingssiedlung Mihatovici bei Tuzla in Nordostbosnien. Nermina erklärt unter Tränen, was es heute bedeutet, Flüchtling in Bosnien-Herzegowina zu sein: "Eine Katastrophe. Sobald du von deiner Scholle vertrieben wirst, ist es aus. Es fällt einem sehr schwer. Wir können die Kinder nicht erziehen, wie es sich gehört. Was soll‘ s – wir müssen uns mit unserem Schicksal abfinden." Der jüngste Sohn von Nermina Smajlovic erinnert sich nicht an seinen Vater, weil er bereits mit acht Monaten Flüchtling wurde. Den Vater und ihren Geburtsort kennt er und seine beiden Brüder nur aus den Erzählungen der Mutter.

Leben am Abgrund

Die Flüchtlingssiedlung Mihatovici wurde 1996 gebaut, finanziert wurde sie von der norwegischen Regierung für rund 1.500 Flüchtlinge aus dem Drina-Gebiet. Heute leben in Mihatovici etwa 800 Menschen aus dem Drina-Gebiet im Osten des Landes. Einer davon ist der 75-jährige Mujo Mustafic, Flüchtling aus Srebrenica: "Ich habe keine Einkünfte, ich bekomme nur 85 Konvertible Mark an Sozialhilfe. Sonst habe ich nichts. Es ist sehr, sehr schwer, niemand kümmert sich, nach dem Motto: ‚Sollen doch die Armen krepieren."

Bürger zweiter Klasse

In der Siedlung Mihatovici ist auch der Verein "Rückkehr – Drina-Gebiet" tätig. Gegründet wurde er vor einigen Jahren mit Hilfe des Schweizer Roten Kreuzes und mit dem Ziel, das wirtschaftliche und soziale Image der in dieser Siedlung untergebrachten Familien zu verbessern. Der Vorsitzende des Vereins, Ramo Muhic, meint, zehn Jahr nach dem Krieg sind die Flüchtlinge von allen vergessen worden. Doch ist das Leben dieser Menschen äußerst schwierig. "Die Flüchtlinge werden im Augenblick als Bürger zweiter Klasse angesehen, unabhängig davon, ob sich ihre Väter oder Brüder an der Verteidigung von Bosnien-Herzegowina beteiligt haben, haben sie weniger Rechte. Das Leben wird monoton, es gibt keine plötzlichen Veränderungen, ein Tag gleicht dem anderen. Alltag ist der Kampf ums nackte Überleben, der Kampf eines jeden einzelnen Bewohners der Siedlung."

Rückkehr für viele ausgeschlossen

Das Flüchtlingslager Mihatovici ist auf den Überresten eines verlassenen Tagbaugeländes. Gerade aus dieser Siedlung sind zahlreiche Flüchtlinge in Drittländer abgewandert. Nur 30 Prozent der Menschen, die diese Siedlung verlassen, kehren an ihren Aufenthaltsort vor dem Krieg zurück. Zum einen aus Furcht vor der ungelösten Kranken- und Sozialversicherung, zum anderen wegen der schlechten Perspektive für junge Menschen. Viele wollen auch gar nicht mehr zurückkehren. Wie schwierig das Leben der Bewohner von Mihatovici und das Flüchtlingsleben im allgemeinen ist, beschreibt wohl am besten Mejra Avdic, ebenfalls eine alleinerziehende Mutter, die bereits seit zehn Jahren in dieser Siedlung lebt: "Es ist wie auf einer einsamen Insel für Strafgefangene. Man hat uns hierher verfrachtet und wir sollen zusehen, wie wir zurecht kommen."

Barbara Pavljasevic, Tuzla
DW-RADIO/Bosnisch, 20.6.2006, Fokus Ost-Südost