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Koblenz im Ausnahmezustand

4. Dezember 2011

Die Koblenzer werden diesen Tag nicht so schnell vergessen: 66 Jahre nach Kriegsende mussten zehntausende Einwohner wegen der Entschärfung einer Luftmine ihre Häuser verlassen.

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Mehrere Rettungs- und Krankentransportwagen (Foto: Andrea Grunau/DW)
Mehr als 300 Rettungsfahrzeuge kamen nach KoblenzBild: DW

Früh, sehr früh klingelt an diesem Sonntagmorgen (04.12.2011) bei vielen Koblenzern der Wecker. Schließlich müssen 45.000 Menschen bis 9.00 Uhr morgens ihre Häuser und Wohnungen verlassen haben - eine nie dagewesene organisatorische und logistische Herausforderung. Seit 6.30 Uhr bringen Pendelbusse die Menschen aus dem Evakuierungsgebiet in Notunterkünfte in Koblenzer Schulen. Seit 7.00 Uhr laufen Mitarbeiter von Ordnungsamt, Feuerwehr und Polizei durch die Straßen und fordern die Menschen mit Lautsprecherdurchsagen auf, den Gefahrenbereich zu verlassen. "Bitte Fenster schließen, Rolläden herablassen und gut abschließen. Bitte denken Sie daran, wichtige Medikamente, Spezialnahrung und Ersatzkleidung mitzunehmen", so lautet der amtliche Aufruf. Noch weiß keiner genau, wann er an diesem Adventssonntag, der mit heftigem Regen beginnt, wieder nach Hause kann.

Koblenz, der Verkehrsknotenpunkt an Rhein und Mosel, ist für einen Tag von seiner Umgebung abgeriegelt. Um 7.53 Uhr hat der letzte Zug den Hauptbahnhof verlassen, seit 8.00 Uhr ist das Gebäude geräumt, Polizeistreifen haben alles kontrolliert. Hier hält in den nächsten Stunden kein Zug mehr, nach 12.00 Uhr darf auch keiner mehr durchfahren. Der Schiffsverkehr auf dem Rhein wird eingestellt, als die Vorbereitungen zur Entschärfung der Sprengsätze im Rhein beginnen. Bundesstraßen und Bahntrassen auf beiden Rheinufern liegen still da wie nie, die beiden wichtigsten Rheinbrücken sind gesperrt, der ganze Umgehungsverkehr wird weiträumig umgeleitet. 190 Männer und 10 Frauen aus dem Koblenzer Gefängnis wurden schon in den Vortagen mit Gefangenenbussen in andere Haftanstalten verlegt. Die Patienten aus zwei Krankenhäusern wurden in andere Kliniken transportiert.

Bahnhof Koblenz, davor Feuerwehr (Foto: Andrea Grunau/DW)
Hauptbahnhof KoblenzBild: DW

Eine große Gefahr

Helmut Schnatz war elf Jahre alt, als 1944 die massive Bombardierung der Stadt Koblenz begann. "Ich habe jahrelang davon geträumt", erzählt der promovierte Historiker, als er zwei Tage vor der Entschärfung zusieht, wie das Wasser in einem Schutzwall aus riesigen Sandsäcken über der Luftmine probeweise abgepumpt wird. In der Abenddämmerung wird im Rhein nicht weit vom Ufer ein großer Zylinder sichtbar, er ist ungefähr drei Meter lang und wiegt 1.800 Kilo. "Er sieht so harmlos aus", sagt Helmut Schnatz. Doch er weiß sehr gut, dass dieser gefährliche Sprengsatz noch heute riesige Flächen verwüsten könnte.

Historiker Dr. Helmut Schnatz vor der Fundstelle der Luftmine in Koblenz-Pfaffendorf. Foto: Andrea Grunau / DW
Der Historiker Dr. Helmut Schnatz vor der Fundstelle der LuftmineBild: DW

Deshalb hat die Stadt Koblenz in Absprache mit dem "Kampfmittelräumdienst Rheinland-Pfalz" an diesem Sonntag im Radius von 1,8 Kilometern alles räumen lassen. Ungefähr so weit könnten bei einer Explosion Splitter fliegen und Menschen schwer verletzen, erklärt Horst Lenz, der technische Leiter des Kampfmittelräumdienstes. Mehr als 2.500 Helfer, darunter sehr viele Ehrenamtliche, sind an diesem Sonntag im Einsatz. Sie sorgen dafür, dass niemand in der Nähe ist, während Horst Lenz und seine sieben Mitarbeiter ihre gefährliche Arbeit tun. Nach 9.00 Uhr klingeln sie im Sperrgebiet an jeder Haustür. Nur vier Mal muss der Schlüsseldienst Wohnungen öffnen. Die Koblenzer sind den Aufrufen gefolgt.

Horst Lenz, Mitarbeiter des Kampfmittelräumdienstes Rheinland-Pfalz, zeigt den deformierten Aufschlagszünder einer britischen Fliegerbombe (Foto: dpa)
Horst Lenz vom KampfmittelräumdienstBild: picture alliance/dpa

Auch Maria Klose hat sich mit ihren vierjährigen Zwillingen Joshua und Muriel in eine Notunterkunft aufgemacht: mit Tagesproviant, Wechselkleidung und Schlafsäcken, "für alle Fälle". In der großen Sporthalle im Schulzentrum Karthause werden sie und die Kinder gleich freundlich in Empfang genommen: Stephan Siegfried vom Stadttheater Koblenz ist mit seiner Handpuppe Findus aus dem Weihnachtsmärchen in die Halle gekommen, um Erwachsene und Kinder zu unterhalten. Er hat sich überlegt, dass er so helfen kann, die Wartezeit zu überbrücken. "Ist das deine erste Bombe?", fragt Findus den kleinen Joshua. Der nickt. Er hat Spaß, denn er war gerade am Vortag mit seiner Mutter und seiner Schwester zur Findus-Aufführung im Stadttheater.

Mitarbeiter des Deutsschen Roten Kreuzes helfen einer Altenheimbewohnerin bei der Evakuierung (Foto: Andrea Grunau/DW)
Das Deutsche Rote Kreuz evakuierte viele AltenheimbewohnerBild: DW

Nebenan haben sich zwei Ehepaare zusammen gesetzt und vergnügen sich beim gemeinsamen Skatspiel. Die Eheleute Gräwer und Apel haben sich erst hier kennengelernt, obwohl sie beide ganz in der Nähe wohnen. Insgesamt wurden von den angebotenen 12.000 Notaufnahmeplätzen aber nur 500 in Anspruch genommen. Die meisten Koblenzer sind bei Verwandten und Bekannten untergekommen, oder sie machen einen Ausflug. Das Sperrgebiet ist weitgehend geräumt. Es fehlen nur noch die Alten und Gehbehinderten. Für ihren Transport sind mehr als 300 Fahrzeuge mit freiwilligen Helfern aus ganz Rheinland-Pfalz nach Koblenz gekommen.

Evakuierung

Zu den Frühaufstehern gehören an diesem Morgen auch die Bewohner von sieben Altenheimen, die im Sperrbezirk liegen. 200 Mitarbeiter sind allein im katholischen Altenheim auf der Karthause im Einsatz. Sie wecken die Senioren ab 5.00 Uhr, versorgen sie für den Tag und machen sie transportfähig. Mit Krankentransport-Fahrzeugen werden sie am Morgen in andere Altenheime, Krankenhäuser oder andere Auffangstellen gebracht. Heimleiterin Maria Dasbach nimmt die älteste Bewohnerin in den Arm: Sie ist 101 Jahre alt und sehr aufgeregt an diesem Morgen. Sie weiß nicht mehr, warum sie die vertraute Umgebung verlassen muss.

Ganz anders geht es der 87-jährigen Herta Lauerberg. Sie wurde aus dem "Senioren- und Pflegeheim Hildegard von Bingen" für diesen Tag ins Caritas Altenheim in Koblenz-Arenberg gebracht und hat hier nach Jahren ihre alte Schulfreundin und Nachbarin Agnes Becker wieder getroffen. Jetzt sitzen die beiden Frauen im Aufenthaltsraum, halten sich an den Händen und tauschen Erinnerungen aus. Herta Lauerberg floh im Krieg immer wieder in den Bunker unter der Festung Ehrenbreitstein. Hier brachte sie im Dezember 1944 sogar ihren ersten Sohn per Kaiserschnitt zur Welt. Heute erzählt sie lächelnd davon. Als sie aber dem Leiter des "Hildegard von Bingen-Heims" nach der Meldung über die Evakuierung zum ersten Mal davon berichtete, sagt Dirk Koopmann, "da hat Frau Lauterbach geweint".

Agnes Becker und Herta Lauerberg (Foto: Andrea Grunau/DW)
Agnes Becker und Herta LauerbergBild: DW

Der Sperrbezirk ist deutlich früher geräumt als befürchtet. Also kann das Team um Horst Lenz seine Arbeit statt um 15.00 Uhr schon gegen 13.30 Uhr starten. Die Männer müssen neben der britischen Luftmine auch noch eine kleinere US-amerikanische Fliegerbombe entschärfen, die während des Niedrigwassers im November ebenfalls im Rhein entdeckt wurde. Die Bombe hat Lenz wegen sichtbarer Beschädigungen und einem gefährlichen Zündmechanismus noch viel mehr Sorgen gemacht als die Luftmine. Die Männer versuchen mit einer Seilscheibe, einer Feder und einem langen Seil, das Zündsystem heraus zu schrauben. Danach wird noch ein Nebelfass gesprengt, mit dem im Krieg die Ziele für angreifende Piloten verborgen werden sollten. Lenz hat schon mehrere Minen und viele Bomben erfolgreich entschärft, doch wie sein ganzes Team erinnert auch er sich an Tagen wie heute an den Unfall in Göttingen. Dort wurden im Jahr 2010 drei Kollegen bei einem Entschärfungsversuch getötet. "Wer sagt, es gibt kein Risiko", sagt Lenz, "der lügt".

"Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, lag die Innenstadt von Koblenz zu 87 Prozent in Trümmern", schreibt Helmut Schnatz in seiner Untersuchung zu "Koblenz im Bombenkrieg". Trotzdem hat die Stadt "Glück gehabt", sagt Schnatz, denn von den damals gut 90.000 Einwohnern konnten viele rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden, viele fanden in Bunkern Schutz. Am Ende zählte man ungefähr 1.000 Tote.

Puppenspieler Stephan Siegfried aus dem Koblenzer Stadttheater unterhält mit seiner Handpuppe Findus den kleinen Joshua im Notaufnahmezentrum in der Sporthalle im Schulzentrum Karthause (Foto: Andrea Grunau/DW)
Puppenspieler Stephan Siegfried mit Handpuppe FindusBild: DW

Gutes Ende der Entschärfung

Helmut Schnatz hat nicht mehr vom Bombenkrieg geträumt, seitdem er die Geschichte erforscht hat. Durch seine Recherchen über den Luftkrieg in Koblenz hat er einen US-amerikanischen Piloten kennen gelernt, der in der Nähe von Koblenz von der deutschen Flak abgeschossen wurde. Roy Petersen aus Michigan und er sind seit Jahrzehnten eng befreundet und besuchen sich gegenseitig.

Um 16.35 Uhr kann die Evakuierung aufgehoben werden, Mine und Bombe konnten ohne größere Probleme entschärft werden, berichtet Horst Lenz. Er ist erleichtert. Die Koblenzer können zurück in ihre Wohnungen, auch die Alten und Kranken können in ihre vertraute Umgebung zurück gebracht werden. Koblenz hat auch im Dezember 2011 wieder Glück gehabt: Dazu hat sicher die sehr gute Organisation und Zusammenarbeit von Stadt, Feuerwehr, Polizei und allen anderen beteiligten Stellen beigetragen, ebenso wie die große Hilfsbereitschaft der Ehrenamtlichen und die Gelassenheit der Koblenzer Bürger. Die Geschichte der Minen- und Bombenfunde in Koblenz und anderen Städten aber, da ist sich Historiker Schnatz einig mit Horst Lenz vom Kampfmittelräumdienst, dürfte noch lange nicht vorbei sein. Denn im Boden und in den Flüssen werden noch sehr viele Blindgänger vermutet.

Autorin: Andrea Grunau
Redaktion: Klaus Jansen, Martin Schrader