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Fritz J. Raddatz: Das bissige Feuilleton-Genie

Jan Bruck26. Februar 2015

Paradiesvogel, Polemiker, Dandy, Literat: Fritz J. Raddatz war eine der schillerndsten Figuren im deutschen Journalismus. Das Feuilleton verliert einen seiner eloquentesten und streitbarsten Köpfe.

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Fritz J. Raddatz (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

Er soll immer einen Sektquirl in der Tasche gehabt haben. Jede neue Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" feierte er mit Champagner. Interviews stimmte er nur zu, wenn dabei seine Zigarette glimmen durfte. Raddatz war nicht nur ein Urgestein des Journalismus, er pflegte auch den abgehobenen Lebensstil eines Dandys der Kulturwelt. Von 1977 bis 1985 leitete er das Feuilleton der Wochenzeitung "Die Zeit" und galt als einer der einflussreichsten und gefürchtetsten Literaturkritiker in Deutschland.

Erst im vergangenen Jahr hatte Raddatz seinen Abschied vom Journalismus erklärt. Damals schrieb er, seine "Gierfreude am Schönen der Kunst" sei zu Asche geworden, die Töne der Gegenwart "nichts als Geräusche", die meisten Gedichte nur "Geplinker". So schrieb er, der Virtuose des Feuilletons: kunstvoll, aufs Schönste geformt, mitunter aber bissig und lästerhaft. Mit 83 Jahren ist Raddatz am Donnerstag (26.02.2014) gestorben.

Schonungsloses Urteil

Raddatz' Rezensionen entfalteten große Wirkung bei Kollegen und Publikum. Seine Interviews mit Künstlern und Intellektuellen in der "Zeit" gehören zu den besten ihrer Gattung. Raddatz legte mehrere Romane vor und schrieb viel beachtete Biographien von Gottfried Benn, Heinrich Heine und Kurt Tucholsky.

Siegfried Lenz, Günter Grass und Fritz J. Raddatz (Foto: dpa)
In illustrer Runde (von links): Siegfried Lenz, Günter Grass und Fritz J. RaddatzBild: picture-alliance/dpa/H.-J. Kaffsack

In ersten Reaktionen würdigen Kollegen und Kulturschaffende Raddatz' Lebenswerk. Für Giovanni di Lorenzo, aktueller Chefredakteur der "Zeit", bleibt Raddatz ein Maßstab. "Es gibt wenige Kollegen, die unser Blatt so geprägt haben wie er", teilte di Lorenzo mit. Literaturkritiker Hellmuth Karasek, dessen Verhältnis zu Raddatz angespannt war, sagte über seinen Kollegen: "Ich bin über seinen Tod sehr erschrocken, weil er eine wichtige Figur meiner Zeit im Kulturbetrieb war."

Zuletzt erschienen Raddatz' Tagebücher unter dem Titel "Unruhestifter", in denen er Einblick in seine Kindheit gab und mit Größen des Zeitgeschehens schonungslos abrechnete. Den Schriftsteller Botho Strauß nannte er ein überschätztes "Sensibelchen", Altkanzler Helmut Schmidt nervte ihn mit "grässlichem Oberlehrergequatsche" und Verleger Siegfried Unseld hielt er schlicht für einen "Kotzbrocken".

Aufstieg und Fall bei der "Zeit"

Raddatz wurde 1931 in Berlin geboren. Seine Kindheit wird überschattet von den Schlägen des Vaters und vom sexuellen Missbrauch durch die Stiefmutter, von denen er in seinen Tagebüchern berichtet.

Raddatz studierte Geschichte, Germanistik, Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte und Amerikanistik an der Humboldt-Universität in Berlin. Bis 1958 war er Vize-Cheflektor im DDR-Verlag Volk und Welt, dann floh er entnervt in die Bundesrepublik. Dort begann er zunächst als Cheflektor bei Kindler, später wechselt er zum Rowohlt Verlag. Dort entdeckte und förderte er als stellvertretender Leiter Autoren wie Hubert Fichte, Elfriede Jelinek, Walter Kempowski oder Vargas Llosa.

1977 dann übernimmt er die Leitung des Feuilletons der "Zeit", die er bis 1985 inne hatte. In dieser Position avancierte er zu einem der streitbarsten und eloquentesten Köpfe der deutschen Literaturszene. Er führte Interviews mit Philosophen und Nobelpreisträgern und regte immer wieder Diskussion an. Kontrovers war in dieser Zeit vor allem sein 1979 erschienener Artikel über die Verstrickung deutscher Dichter in das NS-Regime. 1985 nahm Raddatz seinen Abschied als Feuilletonchef – ausgerechnet er, der Literaturpapst, war einem falschen Goethe-Zitat aufgesessen. Von seinen – nicht wenigen – Widersachern regnete es Spott und Häme. Er selbst bezeichnete die Entlassung als "beruflichen Herzinfarkt", "hinausgeworfen wie ein Hund".

Fritz J. Raddatz (Foto: picture alliance)
Interviews stimmte er nur zu, wenn er dabei rauchen durfte.Bild: picture-alliance/Sven Simon

Erfolg als Autor

In der Folge veröffentlichte Raddatz mehr als 25 Bücher – von Porträts und Biographien bis hin zu literarischen Reiseführern. Er erarbeitet sich einen weithin geachteten Ruf als Autor, Übersetzer und Herausgeber. Raddatz' letzte Publikation, "Meine Jahre mit Ledig", ein Erinnerungsband über die Rowohlt-Jahre erscheint diese Woche. Sein Lebensfazit hatte Raddatz melancholisch und für viele überraschend pessimistisch in seinen Tagebüchern 2014 so formuliert: "Nein, ich hatte kein 'schönes', für (kurze) Strecken 'glückliches' – und das vielleicht gar irrig? – Leben." Doch bei ihm, dem Polemiker und Provokateur, weiß man es nie ganz genau: Vielleicht wollte er den einen oder anderen nur noch ein letztes Mal irritieren.