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Bildergeschichten (23): Das geteilte Jungenklo

Tillmann Bendikowski5. November 2012

1900: Deutschland achtet auf konfessionelle Feinheiten

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Schule Getrennte Toiletten für evangelisch und katholische Schüler in einer Schule in Oggersheim / Rheinland-Pfalz - ohne Jahr Aufnahmezeitraum-/datum 01.01.1900 - 31.12.1900 Urhebervermerk ullstein bild
Getrennte Toiletten für evangelisch und katholische Schüler in einer SchuleBild: Ullstein

Im Nachhinein kann man zuweilen den Eindruck haben, die Deutschen seien irgendwann im Laufe ihrer Geschichte schlicht verrückt geworden. Schauen wir auf dieses Foto, das wohl um 1900 entstand. Es befand sich in einer Schule im (wirklich!) rheinland-pfälzischen Oggersheim und leitete die Schüler getrennt auf das stille Örtchen. Da drängt sich doch die Frage auf, ob das damals so aufstrebende Deutsche Reich, die imposante Industrienation, dieses große und mächtige Land in der Mitte Europas nicht anderes zu tun hat, als katholische und protestantische Knaben dergestalt zu separieren? Nein, hatte es nicht. Und das zeigt ein spezifisch deutsches Problem.

Denn keine andere europäische Nation kann auf eine solch imposante Tradition der inneren religiösen Zerrissenheit verweisen wie Deutschland: Luthers Reformbemühungen mündeten bekanntlich in der Reformation und in deren Folge in der konfessionellen Zersplitterung des Landes. Fortan gab es für die Deutschen immer den Eigenen und den Anderen, den Katholiken und den Protestanten, den Freund und den Feind. Was anfangs ein politischer Spielball der mehr oder weniger mächtigen Landesherren war, was von Geistlichen und religiösen Eiferern durchs Land getragen wurde, grub sich schließlich tief in die deutsche Mentalität ein.
Im 19. Jahrhundert finden wir schließlich die deutsche Gesellschaft tief gespalten, da gab es katholische und evangelische Vereine, Zeitungen und Schulen (inklusive Schultoiletten), oft sogar konfessionell getrennte Stadtteile. Und welch ein Drama entstand zuweilen, wenn die Tochter einen „Falschen“ mit nach Hause brachte – jede „Mischehe“ war eine familiäre Blamage und eine potenzielle Katastrophe für das Seelenheil.

Im Alltag, in der Wirtschaft, in der Politik: Überall hinließ die tiefe konfessionelle Spaltung ihre Spuren, machte Kompromisse schwer, ließ Konflikte schnell prinzipiell werden – auch weil man es eben gewohnt war, dass es immer um die großen, die letzten Dinge ging. Und der Andere war immer nicht nur der Andere, sondern der Andersgläubige, womöglich gar der Ungläubige. Ihn glaubte man bestenfalls missionieren zu können, diskutieren konnte man mit ihm nicht: Der Himmel über Deutschland war und blieb bis weit ins 20. Jahrhundert geteilt. Deshalb gingen die katholischen und evangelischen Jungs getrennt aufs Klo. Nicht nur in Rheinland-Pfalz – Oggersheim war in diesem Sinne überall.