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"Für Inklusion brauchen wir Begegnungen!"

5. September 2021

Raul Krauthausen ist das Gesicht der deutschen Behindertenbewegung. Im DW-Interview sagt er, was Barrierefreiheit und Inklusion bedeuten: Menschen mit Behinderung müssen in allen Lebensbereichen sichtbar sein.

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Deutschland - Raul Krauthausen | Inklusions-Aktivist und Gründer der "Sozialhelden"
Bild: picture-alliance/Sozialhelden e.V./A. Weiland

Deutsche Welle: Herr Krauthausen, Sie setzen sich für die Interessen von Menschen mit Behinderung ein. Als Sie 2004 den Verein gegründet haben, der heute Sozialheld*innen heißt, ging es Ihnen aber gar nicht vorrangig um Behindertenpolitik. Was war Ihr Antrieb damals und wie hat sich das entwickelt? 

Raul Krauthausen: Die Sozialheld*innen sind total naiv aus einer Idee meines Cousins und mir heraus entstanden. Wir wollten uns sozial engagieren, wussten aber nicht genau wo und wofür. Die Organisationen, die wir kannten, waren entweder nicht barrierefrei oder haben uns thematisch nicht besonders interessiert.

Und unser Anspruch war, soziales Handeln irgendwie modern zu machen, auch schicker und idealerweise aus der Perspektive der Betroffenen zu kommunizieren. Wir haben zum Beispiel ein Projekt gemacht, wo man in Supermärkten seine Pfandbons spenden kann, unter dem Namen "Pfandtastisch helfen". Das Projekt gibt es heute noch und es läuft auch sehr gut, aber das war letztendlich nur die Geburtsstunde der Sozialheld*innen.

Wir haben dann irgendwann gemerkt, dass wir uns auf ein Thema konzentrieren müssen, weil das Thema sozial so riesig ist. Wir haben festgestellt: Es ist sinnvoll, wenn wir uns auf die Themen Menschen mit Behinderung, Inklusion, Teilhabe und Barrierefreiheit und selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen konzentrieren. Wir haben dann mit Wheelmap angefangen, einer Karte für rollstuhlgerechte Orte. 

Raul Krauthausen sitzt in einem Cafe vor einem Laptop und zeigt die Karte Wheelmap.org (09.02.2011)
Aktivist Krauthausen mit einer Wheelmap auf dem Laptop (2011)Bild: picture-alliance/ZB

Barrierefreier Verkehr oder schulische Inklusion, Gewalt in Heimen, das deutsche Behindertenwerkstatt-System. Es gibt viele Themen, bei denen Sie aktiv sind. Welches Thema ist Ihnen das Wichtigste? 

Besonders wichtig ist mir, dass wir in Deutschland viel mehr auf behinderte Menschen hören sollten. Es ist nicht mehr okay, wenn ausschließlich nicht behinderte Menschen urteilen, was behinderten Menschen zusteht und was gut für sie ist oder was nicht. Es ist auch nicht okay, wenn nicht behinderte Menschen Sätze sagen wie: "Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken" und dann aber nicht konkret sagen, was sie vorhaben als nächsten Schritt.

Was wir inzwischen brauchen, und da sinkt Deutschland innerhalb Europas wirklich ab: Behinderte Menschen brauchen Rechte, die ihnen Teilhabe ermöglichen und die sie auch gegenüber der Privatwirtschaft einklagen können. 

Ein besonders dramatisches Beispiel: In Sinzig sind bei der Flut zwölf behinderte Menschen in der Lebenshilfe qualvoll ertrunken, weil man sie nicht in Sicherheit gebracht hat. Das muss aufgearbeitet werden und da muss ganz konkret geschaut werden: Wie konnte es passieren, dass behinderte Menschen so oft Opfer in Einrichtungen sind? Dass diese Aufarbeitung aber ausschließlich von nicht behinderten Menschen gemacht wird, die sich am Ende wahrscheinlich auch noch attestieren werden, dass alles okay war, das ist hoch problematisch. 

Es ist auch nicht okay, wenn Behörden nach wie vor Eltern behinderter Kinder nahelegen, ihr Kind auf eine Förderschule zu schicken, weil sie strukturell keine Lust haben, die Regelschulen barrierefrei und inklusiv zu machen. Es ist nicht okay, wenn ich als behinderter Mensch 48 Stunden vorher bei der Deutschen Bahn meine Mobilitätshilfe beantragen muss, wohingegen jeder andere spontan reisen kann. Es ist nicht okay, wenn ich eine kostenpflichtige Hotline anrufen muss, wenn ich einen Kinofilm sehen will, um den Rollstuhlplatz zu reservieren und das nicht online geht. 

All das hat sicher auch etwas damit zu tun, wie Behinderte bei uns wahrgenommen werden. Was können wir denn tun, damit sich Menschen für diese Themen interessieren - also diejenigen, die mit behinderten Menschen bisher so gut wie nichts zu tun haben?

Es geht nicht um die Aufklärung im Sinne von: Wir drucken Broschüren! Oder: Wir erzählen erst einmal der Mehrheitsgesellschaft, dass Menschen mit Behinderungen auch Menschen sind. Das ist eine Binsenweisheit! 

Was wir brauchen, sind Begegnungen: Wir müssen Orte und Gelegenheiten schaffen, wo Menschen mit und ohne Behinderung sich begegnen können. Es kann in meinem Kaninchenzüchter*innen-Verein sein oder in der Schule, im Kindergarten, am Arbeitsmarkt, im öffentlichen Personennahverkehr.

Sechs Menschen inklusive Raul Krauthausen protestieren vor dem Berliner Hauptbahnhof im Rollstühlen in einem symbolische Käfig gegen mangelnde Barrierefreiheit in der Bahn.
Raul Krauthausen (Mitte) bei der Käfig-Aktion in Berlin für mehr Barrierefreiheit in der Bahn (2016)Bild: Imago/epd

Ich vergleiche das Thema Inklusion immer gerne mit einer Straßenbahnfahrt: Wenn du in der Straßenbahn sitzt, dann sitzt du wie viele andere auch im gleichen Waggon. Und es gibt Menschen, die steigen vor dir ein und es gibt Menschen, die steigen nach dir aus. Aber es gibt eine bestimmte Wegstrecke, die ihr gemeinsam zurücklegt.

Keiner der Fahrgäste, inklusive dir, darf sagen, wer neben dir sitzen darf. Wenn dich die Person neben dir stört, ist die einzige Möglichkeit, die du hast: Du setzt dich woanders hin. Und du darfst einfach nicht sagen: "Sorry, du darfst hier nicht sitzen! Du darfst nicht mitfahren!" Die einzige Person, die das dürfte, wäre die Schaffnerin oder der Schaffner. Aber auch nur dann, wenn du kein Ticket hast und auch nur dann, wenn du dich nicht an die Regeln hältst.

Doch was Menschen mit Behinderungen heute an der Mitfahrt hindert, ist der nicht-barrierefreie Zugang zur Straßenbahn: die fehlende Rampe oder die fehlenden akustischen Ansagen der Stationen. Diese Barrieren müssen wir beseitigen.

Niemand von den Behinderten verlangt, dass wir in der Straßenbahn alle nett zueinander sind, dass wir uns ab sofort alle lieb haben und dass dann dort da drinnen das Einhorn-Land ist. Sondern es reicht im Sinne der Inklusion, dass wir einander aushalten und respektieren. 

Sie sind der wohl bekannteste deutsche Behindertenaktivist - eine Medienfigur. Macht es was mit Ihnen, wenn Sie so einen Ruhm haben? Können Sie abends abschalten und sagen: Jetzt bin ich nur noch Raul Krauthausen?

Ich beobachte in meinem eigenen Verhalten und Erleben, dass die öffentliche Figur sich zunehmend von der privaten Figur distanziert. Es gibt immer weniger Privates von mir in der Öffentlichkeit. Ich versuche am Abend weitestgehend abzuschalten. Allerdings ist das gar nicht so einfach, weil sich aufgrund meiner Behinderung die Ebenen permanent vermischen.

Ich war neulich mit Freunden und Freundinnen im Urlaub. Wir haben alle eine Behinderung, und dann war der Strand nicht barrierefrei. Wir wollten aber Urlaub machen. Dann bleibt dir natürlich nichts anderes übrig, als in deinem Urlaub Aktivismus zu machen. Es ist nicht einfach, da eine Trennlinie zu ziehen.

27. Der Aktivist – ein Jubiläum mit Raul Krauthausen

Dieser Ruhm, zum Beispiel das Privileg, mit dem Bundespräsidenten zu reden oder in Fernseh-Talkshows zu sitzen, das ist etwas, wovor ich immer noch große Ehrfurcht habe und wofür ich dankbar bin. Ich merke aber auch, dass ich zunehmend weniger Lust auf sowas habe und zunehmend auch denke: "Jetzt wird es mal Zeit, dass andere Menschen nachrücken."

Ich bin 40 und habe nicht vor, bald aufzuhören. Aber ich würde einfach gerne jetzt die Gelegenheit nutzen, um weitere Bündnisse zu schmieden und auch Aktivistinnen und Aktivisten hochzuziehen und auch zu beraten und zu begleiten, damit diese dann ebenfalls mit dem Bundespräsidenten reden können oder in einer Talkshow sitzen und für ihre Themen sprechen.

Im Juli gab es den Disability Pride Month. Sind Sie stolz auf Ihre Behinderung?

Ich bin nicht sicher, ob man in dem Kontext "Pride" eins zu eins mit "Stolz" übersetzen kann. Ich würde das vielleicht ganz gerne ergänzen um das Wort "würdevoll". Also ich möchte mich nicht mehr für meine Behinderung schämen müssen.

Ich möchte würdevoll behandelt werden und meine Behinderung auch akzeptieren dürfen und möchte nicht geheilt werden. Ich möchte nicht therapiert werden. Ich möchte nicht permanent als krank oder schwach gesehen werden. Sondern ich möchte, dass meine Behinderung als ein Teil von mir, auch von anderen gesehen und akzeptiert wird, dass man einen würdevollen Umgang damit finden kann. Ich glaube, das bedeutet "Pride".

Das komplette Interview mit Raul Krauthausen gibt es im DW Podcast Echt behindert! 

Raúl Aguayo-Krauthausen wurde in Lima, Peru geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Er  studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und Design-Thinking. Außerdem ist er ausgebildeter Telefonseelsorger. 2004 gründete er den Verein Sozialhelden (Er heißt mittlerweile: Sozialheld*innen), der sich für verschiedene gesellschaftliche und soziale Projekte engagiert. Der Verein hat immer wieder Preise gewonnen. 2013 erhielt Krauthausen das Bundesverdienstkreuz am Bande. 2014 erschien seine Autobiografie "Dachdecker wollte ich eh nicht werden: Das Leben aus der Rollstuhlperspektive". Krauthausen ist Blogger, Podcaster und Moderator.

Das Interview führte Matthias Klaus.