1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Beginn des Internationalen Märchenkongresses

Helena Kaschel21. September 2016

In Würzburg hat der Internationale Märchenkongress begonnen. Der Germanist Jack Zipes hält Märchen heute für unentbehrlich. Ein Gespräch über Superhelden, Star Wars und Hoffnung.

https://p.dw.com/p/1HRWD
Deutschland Literatur Märchen Grimm Schneeweßchen und Rosenrot Illustration. (Foto: ullstein bild)
Bild: ullstein bild

200 Jahre Erzählforschung, 15 Bände, knapp 4000 Artikel - von A wie "Amulett" bis Z wie "Zombie": Die "Enzyklopädie des Märchens" der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ist ein weltweit einzigartiges Projekt. Ende November letzten Jahres ist nach 60 Jahren Arbeit der letzte Band erschienen.

Der US-amerikanische Germanist und Literaturwissenschaftler Jack Zipes hat an dem Werk mitgearbeitet. Er gilt als einer der führenden Experten der Märchen der Brüder Grimm im englischsprachigen Raum und hat als Erster alle Fassungen der "Kinder- und Hausmärchen" ins Englische übersetzt. Für Zipes bieten Märchen auch in einer digitalisierten, globalisierten Welt mehr als nur Realitätsflucht.

Deutsche Welle: Rund 1000 Autoren aus 80 Ländern haben an der "Enzyklopädie des Märchens" mitgearbeitet. Sie enthält nicht nur Forschungsergebnisse zu europäischen Märchen, sondern zum Beispiel auch Einträge zu Geschichten aus China, Kolumbien, Äthiopien oder Indonesien. Gibt es Elemente, die kulturübergreifend in allen Märchen vorkommen?

Jack Zipes: Es gibt keine Kultur ohne Märchen. In Märchen geht es um menschliche Erlebnisse, und einige dieser Erlebnisse sind auf der ganzen Welt sehr ähnlich. Rotkäppchen zum Beispiel handelt von Gewalt und der Bewältigung von Gewalt aus der Perspektive eines Mädchens. Männer haben schon immer und überall auf der Welt Mädchen ausgenutzt. Die Geschichte von Rotkäppchen finden wir in etwa 80 Prozent der Kulturen, wenn auch in verschiedenen Versionen und mit unterschiedlichen Botschaften. Ein anderes Beispiel ist Hänsel und Gretel, eine Geschichte über die Vernachlässigung von Kindern. Auch das passiert überall auf der Welt.

Märchenforscher Jack Zipes
Jack Zipes: "Wir werden Märchen bis zum Ende der Welt erzählen"Bild: Carol Dines

Sehen Sie die Autoren der Enzyklopädie als Erben der Brüder Grimm?

Die Mitarbeiter haben zumindest mit der gleichen Akribie gearbeitet wie die Brüder Grimm. Ich musste meine Artikel zwei oder dreimal überarbeiten, bevor sie aufgenommen wurden (lacht). Und die Enzyklopädie ist so international und demokratisch wie das Werk der Grimms. In den 30er und 40er Jahren haben die deutschen Volkskundler das Erbe der Brüder Grimm sehr schlecht vertreten. Die Nationalsozialisten wollten eine reine deutsche Volkskunde, sie wollten ausschließlich die "arische Tradition" kultivieren. Die jetzige Enzyklopädie des Märchens ist eine Art Wiedergutmachung dafür.

Kaum ein US-Amerikaner hat sich mit den Brüdern Grimm so intensiv beschäftigt wie Sie. In Deutschland gelten die Grimm-Märchen als wichtiges Kulturgut und als Exportschlager. Welchen Stellenwert haben sie im außereuropäischen Raum, besonders in den USA?

Dass die UNESCO Grimms Märchen zum Weltdokumentenerbe erklärt hat, zeigt, wie international sie sind. Die Brüder Grimm haben ihre Geschichten nie "deutsche Märchen" genannt, sondern immer "Kinder- und Hausmärchen". Am Anfang waren die Grimms ein bisschen naiv und dachten, sie würden nur deutsche Märchen sammeln. Dann haben sie herausgefunden, dass man diese Geschichten auch in Indien und Griechenland findet. In den USA sind die Grimm-Märchen sehr beliebt, wobei viele eher an die Disney-Bearbeitungen denken als an die Originalmärchen.

Das Disney-Unternehmen hat durch die Verfilmungen die Märchen der Brüder Grimm populärer gemacht, aber sie auch verniedlicht. Außerdem hat Walt Disney eine patriarchale Tradition der Grimm-Märchen fortgesetzt. Die Filme sind technisch gut gemacht, aber sie sind auch oft sexistisch und rassistisch. Deshalb haben seit den 70ern viele Frauen angefangen, Grimm-Märchen aus einer feministischen Sicht und für ein heutiges Publikum zu bearbeiten. Diese Kunstmärchen sind ein wichtiger Beitrag für die Entwicklung des Genres, weil sie Märchen ernstnehmen.

Spielzeug Frozen Puppen Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (Foto: dpa)
1,2 Millarden eingespielte US-Dollar und ein Franchise-Imperium: Die Bilanz des Disney-Märchenfilms "Frozen" (2013)Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Lennihan

Der Disney-Film "Frozen" (dt.: "Die Eiskönigin - Völlig unverforen"), eine Adaption des Märchens "Die Schneekönigin" von Hans Christian Andersen, ist der erfolgreichste Animationsfilm aller Zeiten. Die Fantasyserie "Once Upon A Time - Es war einmal" läuft in den USA in der fünften Staffel. Und Catherine Hardwick, die Regisseurin der erfolgreichen "Twighlight"-Vampirfilme, machte aus "Rotkäppchen" 2011 einen Fantasy-Thriller. Warum greift die Popkultur diese alten Stoffe immer wieder auf?

Die Faszination liegt darin begründet, dass Märchen von Anfang an von den guten und schlechten Erfahrungen des normalen Volkes berichtet haben. Das gilt auch für ähnliche Genres wie zum Beispiel Legenden. Star Wars etwa basiert auf dem mittelalterlichen Versroman "Parzival" von Wolfram von Eschenbach und Chrétiens de Troyes. Wir erzählen diese Geschichten immer wieder, weil sie der Versuch sind, uns mit den Problemen dieser Welt auseinanderzusetzen - Probleme, die wir auch heute haben. Auch die Werbung, die wir jeden Tag im Fernsehen oder in Zeitschriften sehen, basiert auf Märchen. Wenn wir ein bestimmtes Getränk oder eine Creme oder Basketballschuhe kaufen, wollen wir wie Könige oder Prinzen sein und wir finden unser Glück. Märchen sind utopisch. Wir wollen uns in eine andere Welt flüchten, denn unsere Welt ist wie Sie wissen eine perverse - es ist ja eigentlich nicht zu ertragen, was jeden Tag passiert.

Abgesehen davon, dass man mit Märchen der Realität entfliehen kann: Was können diese Geschichten uns heute noch vermitteln?

Realitätsflucht meine ich im positiven Sinne, ich würde es eher Hoffnung nennen. Märchen zeigen, dass man anders leben kann, dass man eine Gesellschaft ändern, sie gerechter machen kann. Märchen zeigen auch Probleme auf, die letztendlich überwunden werden, von Kindern, von Frauen, von Minderheiten. Wir brauchen diese Geschichten, um die Welt vor uns selbst zu retten. Das geht bis zum Klimawandel: Viele moderne Kunstmärchen und Märchenfilme setzen sich damit auseinander. Ich denke da an "How to Train Your Dragon 2", "Malificent", "Into the Woods", und "Song of the Sea". Auch zeitgenössische Theaterstücke und sogar Märchenromane befassen sich mit ökologischen Problemen. Wir werden Märchen bis zum Ende der Welt erzählen, wir brauchen sie dringend.

Was ist ihr persönliches Lieblingsmärchen?

Besonders gefällt mir das Grimm-Märchen "Sechse kommen durch die Welt". Ein Bauer oder Soldat wird nach einem Krieg von einem König schlecht behandelt und sammelt eine Mannschaft von Superhelden um sich. Sie reisen zu diesem gierigen, tyrannischen König und seiner Snob-Tochter, besiegen sie, und teilen den Gewinn. Keine Heirat. Kein harmonisches Ende im traditionellen Sinne. Es geht um Gerechtigkeit, Solidarität und Zusammenarbeit, um das Böse zu überwinden. Und das Märchen ist auch komisch und optimistisch. Ich mag Märchen, in denen der Held Ungerechtigkeit erfährt, aufsteht und für sein Recht kämpft.