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Bayreuth: Drei Jahrzehnte auf dem Grünen Hügel

Rick Fulker
25. Juli 2020

Bei insgesamt 29 Bayreuther Festspielen bekommt man so einiges mit. Unser Reporter Rick Fulker blickt zurück auf seine ganz persönliche Festivalgeschichte.

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Bayreuth - Das Richard-Wagner-Festspielhaus
Bild: picture-alliance/dpa/M. Merz

1986 habe ich die Bayreuther Festspiele zum ersten Mal besucht. 28 weitere Besuche sollten folgen. Wie es dazu kam? Im DW-Pressekontingent war damals eine Karte für die Oper "Siegfried" übrig, niemand sonst wollte hingehen... 

Ich weiß noch, wie damals der Zug in der Kleinstadt anratterte. Der Mythos um die Wagner-Festspiele war so überwältigend groß, dass ich beinahe auf einem Hügel den Schriftzug BAYREUTH erwartet hätte - so wie HOLLYWOOD in Los Angeles. Stattdessen präsentierte sich die fränkische Kleinstadt eher unscheinbar; zwischen Bahnhof und Festspielhaus auf dem Grünen Hügel lagen gerade mal 20 Gehminuten.

Rick Fulker in Bayreuth.
DW-Musikredakteur Rick FulkerBild: DW/Adelheid Feilcke

1989 musste ich nach Bayreuth zu Richard Wagners "Bühnenweihfestspiel", der Oper "Parsifal", neu inszeniert von Wolfgang Wagner, Enkel des Komponisten, und von James Levine dirigiert. Unvergessen: Waltraud Meier in der Rolle der Kundry. Von den delikatesten Farben bis hin zu Urschrei-artigen Vokalausbrüchen: Sie konnte alles. Ich war geflasht. Auch vom Orchesterklang, der aus dem verdeckten Orchestergraben strömte, dem "mystischen Abgrund", wie Richard Wagner ihn selbst nannte.

Die nie gestillte Wagner-Sucht

Bald war ich süchtig nach Richard Wagners Musik. Sie ging in die Ohren, fand ein aufnahmebereites Areal in meinem Gehirn und nistete sich dort dauerhaft ein. Gefühl und intellektuellen Inhalt in dem von Wagner eigens geschaffenen Festspielhaus in unvergleichlicher Akustik zu erleben - phänomenal! 

Dass ich daran teilnehmen durfte, hatte zunächst damit zu tun, dass meine Kolleginnen und Kollegen - wie generell viele meiner deutschen Zeitgenossinnen und -genossen - Richard Wagner gegenüber eher abgeneigt waren. Sie dachten an den Rummel am Eröffnungstag, wo die Reichen, Schönen und Mächtigen sich präsentieren, oder an die Nazi-Vergangenheit, die den Festspielen jahrzehntelang anhaftete.

Bald merkte ich aber, dass Bayreuth ein überraschend freundlicher und entspannter Ort ist, sofern man sich an die Regeln hält - und davon gab es viele. So durfte man etwa nach dem ersten Akt von "Parsifal" nicht klatschen. Heute hält sich kaum noch jemand daran.

Bayreuth-Inszenierungen und Wagner-Gespräche

Wolfgang Wagner, als alter Mann
Wolfgang Wagner bei seiner Verabschiedung 2008Bild: picture-alliance/dpa/D. Karmann

1991 ging es dann mit einem fast alljährlichen Ritual so richtig los: Ich durfte dem ganzen ersten Zyklus der Aufführungen beiwohnen. Damit war auch Stress verbunden: Die Deutsche Welle bot alle sieben Opern der Saison US-Radiosendern in moderierten, sendefertigen Produktionen an: 31 Stunden Programm.

Dafür mussten viele O-Töne gesammelt werden, darunter auch vom Festspielleiter Wolfgang Wagner. Bei unserer ersten Begegnung war er umgänglich und freundlich - und mit seinem oberfränkischen Akzent sehr ausschweifend. Zum Programm gehörte der "Kupfer-Ring", inszeniert von Harry Kupfer und mit Daniel Barenboim als Dirigent. Mit beiden habe ich gesprochen, auch mit vielen Solisten.

Kupfers Inszenierung von Wagners Vieropern-Zyklus "Der Ring des Nibelungen" war nur der erste von fünf kompletten Ring-Inszenierungen, die ich miterleben durfte. Es folgten die der Regisseure Alfred Kirchner, Jürgen Flimm, Tankred Dorst und Frank Castorf, mit James Levine, Giuseppe Sinopoli, Christian Thielemann und Kirill Petrenko als Dirigenten; 1994, 2000, 2006 und 2013 waren die Premierenjahre. 2020 hätte es wieder eine Neuinszenierung des Vieropern-Zyklus "Der Ring des Nibelungen" in Bayreuth geben sollen. Doch wegen der Corona-Pandemie musste das gesamte Festival abgesagt werden.

Ungezählte Stunden und Bilder im Kopf

Wie viele Stunden habe ich wohl Wagners Musik in Bayreuth gelauscht? Wie viel Liter Schweiß in der meist hochsommerlichen Hitze im nicht-klimatisierten Theater und auf den nur leicht gepolsterten Holzstühlen sitzend vergossen? Vielleicht rechnet man sich das besser nicht aus.

Was bleibt in Erinnerung? Fangen wir 1993 an: die Premiere von "Tristan und Isolde". Der Regisseur war damals Deutschlands renommiertester Dramatiker: Heiner Müller. Er brachte es zu einem Skandal. Als noch nicht einmal der letzte Ton verstummt war, gab es schon Buhrufe. Warum? In der vielleicht radikalsten Liebesgeschichte aller Zeiten zeigten die beiden Protagonisten keine Zuneigung zueinander. Stattdessen agierten sie wie gleichgepolte Magnete und prallten in ihren Bewegungen aneinander ab.

Dass Müllers Deutung sehr nah an Richard Wagners Aussage war - dass es nämlich erst der Tod ist, der das Tor zur Utopie aufstößt - wurde anfangs nicht verstanden. Später wurde die Inszenierung frenetisch gefeiert. Wie so oft in Bayreuth: erst ausgebuht, später legendär.

Eierwurf und Lasertunnel

Angela Merkel in Abendgarderobe, Joachim Sauer im Frack in Bayreuth.
Angela Merkel und Ehemann Joachim Sauer beim Festspielbesuch 2002Bild: picture-alliance/dpa/C. Felix

Zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1993 kam auch Michail Gorbatschow. Als Wolfgang Wagner ihn vor dem Festspielhaus begrüßte, flogen Eier. Eines traf den ehemaligen sowjetischen Staatspräsidenten. Es flogen auch Flugblätter mit einem Aufruf gegen "Kulturbolschewismus" und den vermeintlichen Ausverkauf deutscher Interessen. Man kannte diese Sprache: Sie stammte von Alt-Wagnerianern, von Erz-Traditionalisten, die jede Neuerung verabscheuten. Mittlerweile ist diese Fraktion fast ausgestorben.  

Jedes Jahr kommen Prominente aller Art nach Bayreuth zur Eröffnung der Festspiele. Angela Merkel war schon da, als sie noch keine Bundeskanzlerin war, und blieb in manchen Jahren Tage über die Eröffnung hinaus. 

Was bleibt sonst noch in Erinnerung? Eigentlich alles. Besonders aber auch die Bühnenbilder: etwa Lohengrins erster Auftritt aus einem schwirrenden Tunnel von Laserlicht und Nebel in der Inszenierung des Filmemachers Werner Herzog. Oder die frischen, bunten, minimalistischen Szenen und Kostüme im sogenannten "Designer-Ring" aus dem Jahr 1994, mit denen die Künstlerin Rosalie die Regiearbeit von Alfred Kirchner völlig überschattete. Oder die monumentalen Szenen im "Ring" von Frank Castorf: Vom Motel auf der Route 66 bis zum Mount Rushmore.

Mann mit häßlicher übergrosser Maske tanzt, umgeben von Choristen Deutschland Meistersinger Bayreuther Festspiele 2017
Vom Publikum gefeiert: Barrie Koskys "Meistersinger"-Inszenierung von 2017Bild: Bayreuther Festspiele/E. Nawrath

Unvergessen auch: die Biogas-Anlage in der völlig durchgefallenen Inszenierung des "Tannhäuser" von Sebastian Baumgarten 2011; die unheimlichen, blaugetönten Bilder von Neo Rauch für die "Lohengrin"-Neuinszenierung 2018, die an den Stummfilmklassiker "Metropolis" erinnerten; U-Boote, Atombunker und Sängerakrobatik in der "Ring"-Inszenierung von Harry Kupfer; Dieter Dorns Regiemeisterwerk "Der fliegende Holländer", in dem ein ganzes Haus vom Bühnenboden abhob, in der Luft schwebte und sich einmal um die eigene Achse drehte. Und schließlich die Reizüberflutung auf der zugerumpelten Bühne bei Regisseur Christoph Schlingensiefs Opern-Erstling "Parsifal" im Jahr 2004.

Kette von Erfolgen nach Streit und Stagnation

Mann als Clown kostümiert, Frau in Schwarz als Vamp, ein Liliputaner schaut zu
"Tannhäuser" in der Inszenierung von Tobias Kratzer wird bestimmt tiefe Spuren in der Festspielgeschichte hinterlassenBild: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Ich habe viele Gespräche mit den Künstlern geführt und aufgezeichnet, weiß noch, wie Waltraud Meier mir damals sagte, die Partituren von Richard Wagner böten so viele Interpretationsmöglichkeiten, dass sie fast traurig sei, sich für nur eine entscheiden zu müssen. Meier hat mir die Wagner-Welt eröffnet. Und einmal erklärte mir der Dirigent Daniel Barenboim die 16-stündige "Ring"-Erzählung ganz konzentriert in fünf Minuten.

Es gab die Jahre der Stagnation in der späten Wolfgang Wagner-Ära: Nach dem triumphalen "Tristan" von Heiner Müller kam einige Jahre nichts Vergleichbares. Zwar ebnete er bereits 1998 den Weg für die Regelung seiner Nachfolge, trat aber erst 2008 zurück. Jahrelang gab es Gerangel um den Chefsessel, Pressegewitter, Wagner-Familienstreit. Viele Künstler sind in der Zeit gegangen. 

Erst einige Jahre nachdem Katharina Wagner an die Stelle ihres Vaters Wolfgang Wagner getreten war - zunächst im Tandem mit ihrer Halbschwester Eva Wagner-Pasquier, später als alleinige künstlerische Leiterin - stellte sich eine Kette erfolgreicher Produktionen ein: die "Meistersinger" von Regisseur Barrie Kosky 2017, "Lohengrin" mit den besagten Rauch-Bühnenbildern 2018 und vielleicht die eindrucksvollste Produktion überhaupt: "Tannhäuser" von Regisseur Tobias Kratzer im Jahr 2019.

Porträt der künstlerische Leiterin der Bayreuther Festspiele Katharina Wagner.
Katharina Wagner leitet die Wagner-Festspiele seit 2015Bild: picture-alliance/dpa/N. Armer

2020 hätte es wieder eine neue "Ring"-Inszenierung geben müssen. Wegen der Corona-Pandemie sehen wir sie dieses Jahr nicht. Eine positive Nachricht: Nach ernster Krankheit soll Katharina Wagner im Herbst wieder ihre Arbeit aufnehmen. 

Bei alledem, was ich gesehen und gehört habe, bin ich traurig, dass ich nie eine Inszenierung von Wieland Wagner gesehen habe, nie den "Jahrhundertring" des Regisseurs Patrice Chéreau, nie Birgit Nilsson, Wolfgang Windgassen, Kirsten Flagstad oder Hans Hotter auf dem Grünen Hügel gehört habe. Dafür bin ich zu spät geboren.

An dieser Stelle: Entschuldigung an alle empörten Bayreuth-Beflissenen, dass ich das eine oder andere ausgelassen habe. Doch das Letzte, was die Welt braucht, ist ein weiteres Buch über Wagner und Bayreuth. Oder doch? Vielleicht denke ich darüber nach.