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Baerbock: "Wir sind Zeugen dieser Zeit!"

15. Oktober 2022

Die Grünen erleben einen Parteitag fast ohne Konflikte und eine eher nachdenkliche Außenministerin Annalena Baerbock. Nicht einmal an Waffenexporten nach Saudi-Arabien entzündet sich Streit.

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Bundesparteitag Bündnis 90/Die Grünen Annalena Baerbock
Annalena Baerbock: "Wir sind jetzt die Zeitzeugen unserer Geschichte"Bild: INA FASSBENDER/AFP

Als die Außenministerin spricht, herrscht fast vollständige Stille im Saal des World Conference Center Bonn. Annalena Baerbock erzählt auf dem Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen am Samstagmittag vom Leid der Menschen, die sie bei ihren Reisen in die Ukraine getroffen hat. Sie berichtet von einer Überlebenden des Holocaust in Polen, die ihr gesagt habe, wenn sie die Berichte aus der Ukraine sehe, dann kämen Erinnerungen an die Luftschutzkeller auf. Heute, habe diese Frau ihr gesagt, sei sie, die Ministerin, nun die Zeitzeugin.

Baerbock stimmt zu: "Wir bezeugen diese Zeiten, das ist jetzt unsere deutsche, unsere europäische Geschichte. Was wir nicht tun, ist, uns wegzuducken." 

Mit Schutzweste im Wahlkampf in Niedersachsen

Baerbock plädiert für Waffenlieferungen an die Ukraine, auch schwerer Waffen. Sie betont, dass vor allem der Krieg dort für sie im Mittelpunkt steht und weiter stehen wird.

Noch immer ist es fast still im Saal, als Baerbock auch auf die Gewalt im eigenen Land zu sprechen kommt: "Es gab drei Momente, wo ich eine Schutzweste tragen musste: Das war in der Ukraine, das war in Mali, das war letztens im niedersächsischen Wahlkampf." So bedrückend scheint das, was Baerbock berichtet, dass die Delegierten nur kurz, aber heftig applaudieren. 

Bonn | Bundesparteitag Bündnis 90/Die Grünen
Nachdenklich nach zehn Monaten im Amt: Annalena Baerbock und Robert Habeck in BonnBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Als Gastrednerin tritt dann unter großen Beifall die Germanistin und Aktivistin der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial auf, Irina Scherbakowa. Memorial hat gerade zusammen mit anderen Gruppen den Friedensnobelpreis 2022 erhalten.  Scherbakowa hebt hervor, gerade die Grünen hätten seit Jahren vor der Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland gewarnt. "Das werden wir nicht vergessen", ruft sie in den Saal. 

Nouripour: "Wir tragen diesen Staat!"

Die Debatte hatte zuvor Ko-Parteichef Omid Nouripour eröffnet, der aus dem Iran stammt und als Kind dort gelebt hat. Auch er sicherte den Geflüchteten aus der Ukraine die volle Solidarität der Partei zu. Und auch in seiner Rede spielen Luftschutzkeller eine Rolle. "Jedes Kind hat Angst im Luftschutzkeller, ich weiß, wovon ich spreche. Und das sage ich allen, die im Zusammenhang mit Geflüchteten aus der Ukraine von Sozialtourismus sprechen." Damit spielte er auf CDU-Parteichef Friedrich Merz an, der behauptet hatte, Kriegsflüchtlinge pendelten zwischen der Ukraine und Deutschland, um hier mehrfach Sozialleistungen zu bekommen. Merz hatte sich später dafür entschuldigt.

Bonn | Bundesparteitag Bündnis 90/Die Grünen
Die jungen, pragmatischen Grünen: Fast alle Vorschläge der Parteiführung finden die Zustimmung der DelegiertenBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Leidenschaftlich bekennt Nouripour sich auch zur Solidarität mit den protestierenden Frauen im Iran. Und zu den zahlreichen schmerzhaften Kompromissen der Regierung und dem Vorwurf gegen die Grünen, zu staatstragend geworden zu sein und zu wenig rebellisch, ruft der Parteivorsitzende unter großen Beifall in den Saal: "Ja klar, denn wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, diese Regierung doch!"

Waffen für Saudi-Arabien? Kein Streitpunkt

Schon vor Beginn der Reden zu außenpolitischen Themen räumte die Parteitagsregie einen brisanten Streitpunkt ab, der vor dem Treffen in Bonn aufgekommen war. Jüngst hatte eine Exportgenehmigung für Munition für Kampfjets an Saudi-Arabien im Rahmen eines europäischen Gemeinschaftsprojekts für Aufregung gesorgt. Denn auch die Grünen in der Regierung hatten dem zugestimmt. Salomonisch einigte sich die Parteiführung nun mit Kritikern an der Basis auf einen Antrag, in dem es heißt, die Partei lehne Rüstungsexporte in das Königreich zwar weiter ab, lasse der Regierung im aktuellen Fall aber freie Hand und fordere keine Rücknahme des ohnehin geheimen Beschlusses der Regierung. So pragmatisch sind die Grünen im Jahr 2022 geworden.

Längere Laufzeit für Atomkraftwerke? Kein Streitpunkt

Am Freitag, zu Beginn des Parteitages, hatten die rund 800 Delegierten   Robert Habeck, dem grünen Wirtschafts- und Klimaschutzminister, demonstrativ  den Rücken gestärkt. Sie stimmten mit großer Mehrheit seinem Plan zu, zwei der drei noch laufenden Atomkraftwerke noch einen Weiterbetrieb bis Mitte April nächsten Jahres zu erlauben, um den steigenden Strompreisen zu begegnen.

Deutschland Politik l Grünen-Parteitag in Bonn l Robert Habeck
Robert Habeck: Mehr Spielraum bei Verhandlungen mit den KoalitionspartnernBild: Ina Fassbender/AFP

Über den Weiterbetrieb der Kraftwerke ist ein heftiger Streit innerhalb der Regierung ausgebrochen. Der kleine Regierungspartner FDP plädiert für einen Weiterbetrieb aller drei Kraftwerke bis 2024. Das lehnt Habeck strikt ab. Doch die Anti-Atomkraft-Partei Grüne besteht nicht auf ein sofortiges Abschalten zum Jahresende, wie es eigentlich geplant war und viele Delegierte es immer noch befürworten. Der Beschluss erhöht nun Habecks Spielraum in den schwierigen Gesprächen mit den Regierungspartnern.

Lemke: Konzentration nicht mit Ruhe verwechseln

Kaum kontroverse Debatten über Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, über länger laufende Atomkraftwerke - war diese Ruhe zu erwarten bei den Grünen? Umweltministerin Steffi Lemke sagt dazu am Rande des Parteitages der DW: "Mein Eindruck ist eher, dass dieser Parteitag konzentriert ist. Und kontroverse Fragen werden auf die Problemlösung hin diskutiert. Das ist nicht mit Ruhe zu verwechseln."

Aber es liegt sicher auch daran, dass fast die Hälfte der rund 800 Delegierten sehr jung und zum ersten Mal auf einem Grünen-Parteitag ist. Und die neue Generation der Grünen-Aktivisten hat kaum Interesse an hitzigen ideologischen Konflikten der Vergangenheit. Die aktuellen Zeiten sind hart genug.