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August Sander: der Chronist des Alltäglichen

Isabel Surges
24. Dezember 2018

Schausteller, Familien, Großunternehmer - sie alle standen für August Sander Modell. Mit seinem Porträtwerk über die deutsche Gesellschaft schuf der Fotograf einen Meilenstein der Fotografiegeschichte.

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BG August Sander
Bild: Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv; VG Bild-Kunst, 2018; Courtesy: The J. Paul Getty Museum, Los Angeles

Ein zartes Lächeln, ein neugieriger Blick in die Kamera. Es wirkt, als habe die junge Mutter sich kurz mit ihrem Sohn auf dem Rasen niedergelassen, auf ihrem Kleid verstreut liegen noch ein paar Grashalme. Diesen unbeschwerten Moment im Sommer 1926 fing August Sander (1876-1964) ein. Scheinbar mühelos verstand es der Fotograf aus dem Westerwald die Distanz zwischen Porträtiertem und Betrachter zu durchbrechen und mit seinen Bildern immer auch ein Gefühl zu vermitteln. August Sander sah die Welt, wie sie war und nicht, wie sie sein sollte.

Weltruhm erlangte der Sohn eines Bergarbeiters durch sein umfangreiches Porträtwerk "Menschen des 20. Jahrhunderts". Der in einer Laufzeit von über 60 Jahren entstandene Epos liefert einen Querschnitt durch die deutsche Bevölkerung und bildet die verschiedenen Berufsgruppen und Gesellschaftstypen ab, oft über Generationen hinweg verteilt. Die Photographische Sammlung der SK Kulturstiftung in Köln zeigt derzeit eine repräsentative Auswahl von 150 Bildern aus seinem Jahrhundertwerk, darunter alle 60 Aufnahmen aus dem 1929 erschienenen Buch "Antlitz der Zeit".

Galerie - August Sander
August Sanders "Werkstudenten" von 1926 Bild: Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur

Vom Handwerker zum Künstler

Bevor Sander sein Konzept zu "Menschen des 20. Jahrhunderts" festlegte, hatte er bereits viele Menschen fotografiert. In Köln betrieb er ab 1910 ein Porträtstudio und fertigte in Auftragsarbeit Bilder von Großunternehmern, Apothekern oder Fußballvereinen an. Parallel zog er durch die Dörfer der Umgebung, wo er von vielen Familien mit der Bitte beauftragt wurde, Fotos der Verwandten und Liebsten anzufertigen. Auf diese Weise entstand ein riesiger Fundus an Bildern aus den verschiedensten Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten.

Während seiner Schaffenszeit in Köln kam Sander schließlich mit der "Gruppe progressiver Künstler" in Kontakt. Die Avantgardebewegung um Heinrich Hoerle und Gerd Arntz hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen und Sozialstrukturen der deutschen Gesellschaft abzubilden. Man wollte sich von den vergeistigten Strömungen der Kunst distanzieren und auf die Welt des Sichtbaren zurückbesinnen. Als Konsequenz verschrieb sich Sander der systematischen Aufarbeitung der deutschen Gesellschaft in den Jahren zwischen Weimarer Republik und unmittelbarer Nachkriegszeit.

Galerie - August Sander
Die Familie Sander im Jahr 1905Bild: Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur

Im Spiegel der Zeit

Im Stile der Neuen Sachlichkeit lichtete Sander in Form von ikonischen Porträts die Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab: Bettler, Arbeiter, Bauern, Künstler, Beamte, Politiker, Geistliche. So entstand ein Panorama der deutschen Lebensverhältnisse, wie es sonst nirgendwo zu finden ist. Mit der Betrachtung einzelner Fotografien als Teil eines Gesamtwerkes gilt Sander zudem als Wegbereiter der sachlich-konzeptuellen Dokumentarfotografie.

Der Fotograf gliederte die von ihm in den Fokus genommenen Bildgruppen und -mappen in sieben Kategorien ein: "Der Bauer", "Der Handwerker", "Die Frau", "Die Stände", "Die Künstler", "Die Großstadt" sowie "Die letzten Menschen" ein. Letztere Gruppierung stellt dabei die Bezeichnung für Menschen dar, die am Rande der Gesellschaft lebten. Zu ihnen zählten unter anderem Bettler, Kranke und Sterbende. Auch diese hielt Sander mit einem hohen Maß an Respekt und Feingefühl in seinen Fotografien fest. Die einzelnen Berufsgruppen führte er dann in seinen Buchbänden und Ausstellungen gemeinsam auf und überließ es dem Betrachter herauszufinden, wo sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden lassen.

Der Mensch hinter dem Bild

"Mit Hilfe der reinen Photografie ist es uns möglich, Bildnisse zu schaffen, die die Betreffenden unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie wiedergeben", schrieb der Fotograf in einem Brief von 1925. Sander wollte auch der Individualität und der psychologischen Befindlichkeit der von ihm Porträtierten nachspüren - der persönliche Wert seiner Fotografien war ihm genauso wichtig wie eine dokumentarische Neutralität.

Hinter den Porträtbildern zum Zyklus "Menschen des 20. Jahrhunderts" stecken zahlreiche Menschen und Geschichten. Wie haben die Dargestellten ihr Leben verbracht? Was hat ihre Gesichter und Hände gezeichnet? Auf einige der Fragen finden sich heute sogar Antworten: Da rund  80 Prozent der Bilder Teil von Auftragsarbeiten waren, lässt sich heute teilweise zurückverfolgen, wer hinter den Bildern steckt. Mit vielen seiner Kunden hielt Sander auch über seine Anstellung als Fotograf hinaus Kontakt.

Galerie - August Sander
August Sander fertigte auch Landschaftsfotografien anBild: Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur

"Antlitz der Zeit"

Das Kölnische Kunstmuseum stellte die ersten 100 Fotos aus "Menschen des 20. Jahrhunderts" bereits 1927 aus. Zwei Jahre später erschien das Buch "Antlitz der Zeit", das 60 Porträts und ein Vorwort des Schriftstellers Alfred Döblin vereinigte: "Wie man Soziologie schreibt ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt, Bilder von Gesichtern und nicht etwa Trachten, das schafft der Blick dieses Fotografen, sein Geist, seine Beobachtung, sein Wissen und nicht zuletzt sein enormes fotografisches Können", jubilierte Döblin.

Avantgardist der Porträtfotografie

Mit seinem neuartigen fotografischen Porträtstil distanzierte sich Sander von der sonst üblichen Atelierfotografie, in der die Protagonisten mit Posen und Requisiten in Szene gesetzt wurden. Als Pionier der sachlich-dokumentarischen Fotografie gelten Sanders Aufnahmen noch heute als Inspiration und Maßstab für junge Fotografengenerationen. 

Die Ausstellung "August Sander: Meisterwerke - Photographien aus 'Menschen des 20. Jahrhunderts'" ist noch bis zum 27. Januar 2019 in der Sammlung/SK Kultur in Köln zu sehen.