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"Boris Godunow" in Stuttgart

4. Februar 2020

Neubeginn für einen Klassiker: Die Staatsoper Stuttgart kombiniert Mussorgskis Oper "Boris Godunow" mit Zitaten aus dem Buch "Secondhand-Zeit", geschrieben von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

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Oper "Boris"
Bild: picture-alliance/dpa/B. Weissbrod

In Russland scheint sich die Geschichte immer und immer wieder zu wiederholen. Die Herrscher unterdrücken das Volk, die Henker sind erbarmungslos gegenüber ihren Opfern, und die Menschen schwanken zwischen Aufbegehren und Schweigen.

Diesen ewigen Kreislauf beschrieb der russische Nationaldichter Alexander Puschkin schon vor 200 Jahren in seinem Versdrama "Boris Godunow", das in den Wirren des frühen 17. Jahrhunderts spielt. Sein Held "Zar Boris", mehr fiktive, als historische Figur, geht über Leichen, um den Thron zu besteigen. Zum Schluss wird er Opfer seiner Machtgier, die nicht nur seine eigene Familie, sondern das ganze Land in die Katastrophe stürzt. Ein halbes Jahrhundert nach Puschkin griff der Komponist Modest Petrowitsch Mussorgski den Stoff auf und verdichtete ihn in seiner Oper "Boris Godunow" zu einer expressiven Volks- und Herrscherfallstudie in sieben Szenen.

Opernsänger Adam Palka in der Rolle des Boris Godunow
Opernsänger Adam Palka in der Rolle des Boris GodunowBild: picture-alliance/dpa/B. Weissbrod

Jede neue Künstlergeneration beschäftigt sich aufs Neue mit dem "Boris"-Thema, wenn es darum geht, russische Urfragen zu stellen: Warum sind die russischen Herrscher so rücksichtslos? Warum wehrt sich der leidende "kleine Mann" nicht? Warum schweigt das Volk?

Sergej Newski und Boris Godunow

Nun ist Sergej Newski an der Reihe, geboren 1972 (und damit derselbe Jahrgang wie die Autorin dieses Beitrags). Unsere Generation, die mit Gorbatschows Perestrojka volljährig wurde, nennt sich selbst eine "verlorene Generation". Selten war in der russischen Geschichte die Euphorie so groß, standen die Chancen auf Freiheit und Ausbruch aus der historischen Spirale so gut. Und selten zerbrach ein Traum so erbarmungslos. Wohl nie zuvor war der Kontrast zwischen individueller Freiheit einiger weniger und der Passivität der Masse so groß. Erklärungen gibt es viele: vom verlorenen Generationenkampf (mit Putin sind immer noch die "Väter" an der Macht) bis zum Trauma des Turbokapitalismus.

Komponist Sergej Newski
Komponist Sergej Newski Bild: Ricordi Berlin

Die selbsternannte "verlorene Generation" zeigt kaum politisches Engagement, dafür die höchste Abwanderungsquote der Nachkriegszeit. Auch Sergej Newski ging in den Westen, studierte in Deutschland und lebt heute in Berlin. In Russland blieb er dennoch eine durchaus vernehmbare, kritische Stimme, nicht zuletzt durch seine Zusammenarbeit mit dem verfolgten Theaterregisseur Kyrill Serebrennikov. 

Ein gewagtes Projekt in Stuttgart bietet dem Künstler Newski nun die Möglichkeit, die eigene und die Vergangenheit Russlands zu rekapitulieren. Beistand leisteten Opernintendant Viktor Schoner und Dramaturg Miron Hakenbeck. Von Letzterem stammte auch der Vorschlag, Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" als Libretto-Grundlage auszuwählen. 2015 erhielt Alexijewitsch den Literatur-Nobelpreis für ihre Studien des "Roten Menschen" - des Homo Postsowjeticus". Die Handlung ihres Romanes "Secondhand-Zeit" spielt im postsowjetischen Raum der 1990er Jahre - einer Epoche, die oft mit den Wirren der Godunow-Zeit verglichen wird.

Mussorgski trifft Alexijewitsch

Aus Alexijewitschs Roman, einer Polyphonie tragischer Lebensgeschichten, wählten Newski und seine Mitstreiter sechs Figuren aus, die exemplarisch für das Elend ihrer Zeit stehen. Da ist etwa eine "von Almosen der Erinnerung" lebende Mutter, deren Kind sich das Leben genommen hat, ein ehemaliger jüdischer Partisan, der sich erst im hohen Alter der schrecklichen Vergangenheit des Genozids stellt (der Holocaust wurde in der Sowjetunion tot geschwiegen), oder ein junger Obdachloser, den kriminelle Marktstrukturen in die Armut getrieben haben. Die sieben Szenen, in denen die Protagonisten des Romans ihre Tragödien erzählen, meistens in Form eines Monologs, verzahnen sich im Reißverschlussverfahren mit Mussorgski-Szenen, die von den Sängern des Chors vorgetragen werden.

Probenfotos mit Adam Palka als Boris Godunow
Boris Godunow in der Inszenierung von Sergej NewskiBild: Matthias Baus

Die Figuren des Romans von Alexijewitsch verhalten sich wie Doppelgänger zu den prägnanten Charakteren von Mussorgski: So wird der Obdachlose zum Gottesnarr, die Mutter des kindischen Selbstmörders zur Amme der Zarenkinder in "Boris", die von einem Mob umgebracht werden. Da, wo Mussorgski in überwältigenden Chorszenen das leidende Volk porträtiert, versucht Newski "Nahaufnahmen" von Einzelschicksalen, meist in transparenten Monologen. Bei Mussorgski wird auf Russisch gesungen, Newski arbeitet mit der deutschen Übersetzung. Ihm geht es nicht um Stimmungen, sondern um die Verständlichkeit jedes einzelnen Wortes.

Titus Engel dirigiert "Boris" ohne russische Schwere und sorgt dabei für elegante Übergänge zwischen beiden Werken. Der Regisseur Paul-Georg Dittrich schafft einen schlüssigen antiutopischen Rahmen für unterschiedliche Handlungsstränge. Den visuellen Mittelpunkt der Bühne bildet eine Konstruktion, die zugleich an Bauten des Sowjet-Futurismus und den zerstörten Reaktor von Tschernobyl erinnert.

Das Volk bleibt stumm – aber der Einzelne spricht

Sicherlich könnte Sergej Newskis rund einstündige Oper "Secondhand-Zeit" auch ohne "Boris Godunow" als Musiktheater-Stück bestehen. Jedoch sind einzelne Fragmente zutiefst berührend - vor allem dann, wenn Swetlana Alexijewitschs Texte, denen neben wahrheitsverpflichteter Härte auch große Poesie innewohnt, von der Musik gekonnt aufgegriffen und transportiert werden.

Swetlana Alexijewitsch G20 Politik
Nobelpreisträgerin Swetlana AlexijewitschBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Puschkins "Godunow" endet mit dem legendären Satz "Das Volk bleibt stumm". In Newskis finaler Szene nach Alexijewitsch beweinen die Protagonisten in einem vierstimmigen Choral jeweils ihr Leid - jeder für sich, einsam, aber eben nicht mehr sprachlos. Genau darin besteht die Intention sowohl von Alexijewitsch als auch von Newski: den Stummen eine Stimme zu verleihen, auch wenn es erst mal nicht um das große Ganze, sondern um das Schicksal Einzelner geht. Die Nobelpreisträgerin erschien zum Abschluss nur kurz auf der Bühne und entzog sich dann schnell dem Applaus.