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Auf der Suche nach der Grenzerfahrung

Udo Taubitz 4. April 2005

Immer mehr Menschen suchen extreme Kicks. Warum nur? Bestseller-Autor Tim Parks ist dieser Frage in seinem neuen Roman nachgegangen.

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Wilde Bootsfahrten für den Adrenalin-KickBild: AP

15 Engländer unterschiedlichster Herkunft haben einen Kajakkurs in den Tiroler Alpen gebucht. Sieben Tage lang lernen die Hobby-Kanuten den unberechenbaren Strom kennen - und sich selbst. Der archaischen Kraft des Wassers ergeben, beginnt manche Lebensfassade zu bröckeln. In Tim Parks' neuem Abenteuerroman "Weißes Wasser" geht es um den Mut zur Grenzüberschreitung, um Gruppendynamik aber auch um die Gefahren des Klimawandels. Parks ist seit sieben Jahren selbst ein leidenschaftlicher Wildwasserkanute. Was fasziniert ihn daran, eingezwängt in ein enges Plastikboot durch gefährliche Sturzbäche zu paddeln?

"Geist und Körper sind gleichermaßen total gefordert. Das ist etwas ganz anderes als am Schreibtisch zu sitzen. Es wird heutzutage immer schwieriger, seine Lebendigkeit zu spüren, mit der Welt in Kontakt zu treten. Insbesondere bei Männern scheint das Selbstvertrauen davon abzuhängen, ob sie in der Lage sind, ihre Angst zu kontrollieren. Manche nutzen den Sport, weil sie Energien und Gefühle haben, die sie im Alltag nicht rauslassen können. Die meisten Leute in der westlichen Welt fühlen sich geistig unausgelastet, und körperlich sind sie sowieso kaum gefordert, deswegen sind sie froh, wenn sie einen sportlichen Ausgleich finden."

Der Reiz der Todesgefahr

Immer mehr Menschen in Europa suchen extreme Körpererfahrungen. In ihrer Freizeit klettern sie künstliche Steilwände hoch, sie rasen halsbrecherische Skipisten herab, fliegen mit schwer lenkbaren Drachen durch die Luft oder paddeln wie der Schriftsteller Tim Parks durch eiskalte Stromschnellen. Diese Extremsportarten sind oft lebensgefährlich, und genau das macht die Sache so reizvoll. Andererseits streben die Menschen im Alltag nach immer mehr Sicherheit: Sie schließen zuhauf Versicherungen ab, schützen ihre Häuser mit Alarmanlagen, ihre Autos sind vollgepackt mit Sicherheitssystemen. Ein Widerspruch, den Tim Parks überaus spannend findet.

"Das ist auch ein Kernthema in meinem neuen Buch. Die Leute sind davon besessen, ihr ganzes Leben durchzuplanen. Die Sicherheit der Rente in 30 Jahren ist derzeit ein bestimmendes Thema in der italienischen Politik... Einerseits sichern wir unser Leben rundherum ab. Aber gleichzeitig suchen wir nach unmittelbaren Erfahrungen in der Natur, die unser überversichertes Leben aufregend machen. Deshalb gibt es auch so viele aggressive Autofahrer auf den Straßen - die holen sich da ihren Adrenalinkick. Je organisierter und festgefahrener die Gesellschaft ist, desto mehr sehnen sich die Menschen nach Abenteuern. Wer zurzeit in Bagdad lebt, braucht wahrscheinlich keinen Extremsport."

Extremsportler und Globalisierungsgegner

Wer in Bagdad lebt, hat derzeit wahrscheinlich auch andere Sorgen als den Schutz der Umwelt. In Tim Parks' neuem Roman ist die Bedrohung der Erde durch den Menschen ein weiteres wichtiges Thema. Der Held des Buches ist ein Kajaklehrer und Globalisierungsgegner. Er reist von Konferenz zu Konferenz, um gegen die Ausbeutung der Natur zu protestieren. Die Botschaft lautet: Wir sitzen alle in einem Boot. Und wenn wir nicht aufpassen, gehen wir zusammen unter. Ein anderer Roman, der so ziemlich das Gegenteil behauptet, hat kürzlich die deutschen Bestseller-Listen erobert. "Welt in Angst" heißt das Buch des Amerikaners Michael Crichton, auf den sein Kollege Tim Parks ziemlich wütend ist.

"Die These in Crichtons Buch lautet: Die globale Erderwärmung sei eine Erfindung von angeblichen Umweltschützern, die tatsächlich aber eigennützige Zwecke verfolgen. Also mal ehrlich, diese These ist doch lächerlich, und man muss sich fragen, was eigentlich Crichtons Interesse ist. 99 von 100 Wissenschaftlern widerlegen seine Ansichten.

Island: Gletschersee Jökulsalon
Gletschersee JölulsalonBild: dpa

Man muss sich nicht sehr anstrengen, um heraus zu finden, was mit den Temperaturen auf der Erde los ist, was mit den Gletschern passiert. Es ist zwar sehr schwierig zu sagen, in welchem Ausmaß die Menschheit verantwortlich ist. Aber man kann leicht beobachten: die Industrie pustet immer mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre und die Gletscher schmelzen immer schneller ab. Die Folgen werden drastisch sein. Wenn die Gletscher in den Alpen abgeschmolzen sind, werden wir in Italien nicht mehr genug Trinkwasser haben."

(Tim Parks wurde in England geboren und ist dort auch aufgewachsen, er lebt aber seit mehr als 20 Jahren in Italien).