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Auf Augenhöhe

25. Mai 2009

Manchmal hat der Tierforscher besonderes Glück. Dann erwischt er zum Beispiel den Moment, in dem der überaus seltene und scheue Kabawucki-Vogel aus dem Ei schlüpft. Worauf sich der Tierforscher entsprechend freut.

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen.
Der Schriftsteller Burkhard SpinnenBild: privat

Auch der Sprachforscher hat manchmal solch ein Glück, wenngleich er es meistens mit ein paar Millionen Fernsehzuschauern und Zeitungslesern teilen muss. Ich zum Beispiel durfte vor vier Jahren mit ansehen und hören, wie eine Redewendung ihre Karriere begann. Es war nach der Bundestagswahl, als der Noch-Kanzler Gerhard Schröder immer wieder forderte, seine im letzten Moment erstarkte SPD müsse mit der CDU eine Koalition "auf Augenhöhe" eingehen.

Nun gab es die Redewendung, dass man jemandem "auf gleicher Augenhöhe", also mit dem gleichen Status begegnet, natürlich schon längst. Doch die gefährlich sinnverkürzende Version "auf Augenhöhe" begann erst in diesen Tagen ihren Siegeszug durch Gehirne und Medien.

Ein Wort-Hype

Unser Medienzeitalter befördert solche Wort-Hypes. Fällt eine Bemerkung an einer besonders wichtigen Stelle, vielleicht in einem der sogenannten "historischen Momente", dann kann sie prompt so häufig reproduziert werden, dass sie einen Stellenwert und Bekanntheitsgrad im öffentlichen Reden bekommt, den sie sonst nie erreicht hätte.

Der Normalfall ist das nicht. Modewörter oder –wendungen sind meistens schwer auf ihren Ursprung zurückzuführen. Sie entstehen irgendwo an den Rändern der Sprachgemeinschaft, und dann setzen sie sich allmählich gegen eine große Konkurrenz von Alternativen durch. Es ist eine Art Darwinismus der Sprache: das stärkere Wort setzt sich gegen das Schwächere durch.

Die Macht des (Mode-)Wortes

Mann blickt kleiner Giraffe in die Augen.
(Noch) auf gleicher AugenhöheBild: AP

Eines aber ist in beiden Fällen gleich: Die Macht des Modewortes über die Sprecher. Wer immer in den letzten Jahren von Gleichberechtigung in politischen oder anderen Debatten reden wollte, der sah die Gesprächspartner "auf Augenhöhe". Hätte ich für jeden öffentlichen Fall dieser Wendung einen Euro, ich wäre ein sehr reicher Mann.

Allerdings basierte dieser Reichtum (wie viele Reichtümer) auf der Armut von anderen. Denn jeder, der ein Modewort gebraucht, bringt sich um die Möglichkeit, eine Sache oder einen Sachverhalt mit eigenen Augen zu sehen und mit der eigenen Zunge auszusprechen. Es ist die traurige Seite des Darwinismus, dass für eine erfolgreiche Art andere Arten aussterben müssen. In der Sprache ist es ähnlich.


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Gerade ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Gabriela Schaaf