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Auch ein Klaps ist tabu

Naomi Conrad26. Dezember 2012

Kinder, die geprügelt werden, tendieren später häufiger zu Aggression und Gewalt - und greifen öfter zu Schusswaffen. Ein Kriminologe fordert deshalb eine "Abrüstung" in der Kindererziehung.

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Symbolbild zu "Außenseiter, Einsamkeit" Bild: Fotolia/ lassedesignen # 42127869
Symbolbild Außenseiter EinsamkeitBild: Fotolia/ lassedesignen

"Keine Frage: Gewalt erzeugt Gewalt", sagt Christian Pfeiffer: "Es gibt unter den Amokläufern weltweit niemanden, der eine liebevolle Kindererziehung gehabt hätte." Nicht jedes misshandelte Kind greift später zur Waffe. Aber: Kinder, die von ihren Eltern oder Lehrern geprügelt wurden, gerieten fünf Mal häufiger in eine "richtige Gewaltkarriere". Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen hat 45.000 Jugendliche in Deutschland befragt. Von den "liebevoll und gewaltfrei" erzogenen Jugendlichen schlagen nur etwa zwei bis drei Prozent eine Gewaltkarriere ein. "Bei denen, die sowohl in der Kindheit und Jugend Prügel abbekommen haben, waren es 17 Prozent."

Denn: "Kinder machen die Erfahrung: Gewalt lohnt sich, der Stärkere gewinnt – und wenn ich selbst der Stärkere bin, dann bin ich am Zug", glaubt auch der Kölner Jugendpsychotherapeut Wolfgang Oelsner. Deshalb schlagen geprügelte Kinder häufiger zu, tendieren zu verbaler Gewalt und Kriminalität, sogar Rechtsextremismus, ist Pfeiffer überzeugt. Und, fügt er hinzu, wünschen sich eine Schusswaffe: Denn geprügelte und psychisch misshandelte Kinder Kinder suchten nach Wegen, ihre frühen Ohnmachtserfahrungen zu kompensieren, also selber mächtig zu werden. Die Folgen, sagt Pfeiffer, könnten schrecklich sein: Etwa der Amoklauf eines jungen Mannes in Newtown, der 20 Kinder und sechs Erwachsene erschoss.

Amerikas "repressive Kindererziehung"

Pfeiffer gibt die Schuld an den hohen Gewaltaten in den Vereinigten Staaten der "repressiven Kindererziehung", wie er sie nennt, wobei er betont, dass auch andere Faktoren wie Arbeitslosigkeit eine Rolle spielen. In den USA befürworteten 70 Prozent der Eltern eine gelegentliche Tracht Prügel - auch durch Lehrer. In 21 Bundesstaaten dürfen Lehrer ihre Schüler schlagen, oft werden die Prügel mit Hilfe eines großen Holzstocks, dem sogenannten "paddle“" ausgeteilt.

ARCHIV - Der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, aufgenommen am 17.03.2009 in Berlin. Pfeiffer stellte am Mittwoch (19.10.2011) eine Studie des Instituts zu Jugendgewalt und Kriminalität vor. Demnach hat Berlin keine auffallend höhere Kriminalitätsrate als andere Städte. Foto: Tim Brakemeier dpa/lbn (zu dpa 0650 vom 19.10.2011) +++(c) dpa - Bildfunk+++
Christian Pfeiffer fordert eine "Abrüstung"Bild: picture-alliance/dpa

Eine Studie der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch aus dem Jahr 2009 dokumentiert Fälle von amerikanischen Kindern, die "ernsthaft geschlagen werden" und Körperverletzungen davontragen. Viele Eltern würden die Schläge in der Schule zwar ablehnen, dennoch würden die ausdrücklichen Wünsche der Eltern von den Lehrern manchmal ignoriert, heißt es in der Studie "A Violent Education" (Eine gewalttätige Erziehung). "Kinder werden immun gegen diese ständige Gewalt und akzeptieren sie als normalen Teil des Alltags", schreiben die Verfasser der Studie.

"Da kann es einen nicht wundern, dass der Waffenwunsch bei der großen Mehrheit der Amerikaner sehr ausgeprägt ist", sagt Pfeiffer – und forderte eine "Abrüstung" in der Kindererziehung, wie sie in Deutschland in den 1990er Jahren passierte.

Recht auf gewaltlose Erziehung

Heute räumt das "Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung" Kindern das ausdrückliche Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ein. In den letzten 20 Jahren habe sich das "elterliche Verhalten drastisch verändert", sagt Pfeiffer, der seit den 1990er Jahren Gewalt erforscht: Mehr als 60 Prozent aller Kinder und Jugendliche würden heute gar keine Schläge mehr erleben und der Anteil der Eltern, die ihre Kinder "massiv schlagen" hätte sich von 15 auf sieben Prozent in den letzten 20 Jahren reduziert. Und damit, ist sich Pfeiffer sicher, hätte auch die Gewalt und Kriminalität in der Gesellschaft insgesamt abgenommen.

Wolfgang Oelsner
Oelsner glaubt, dass Aggression angeboren istBild: DW

Schlagende Eltern, so Pfeiffer, hätten oft einen sehr niedrigen Bildungsgrad und lebten oft in engen, armen Verhältnissen. Nahezu 100 Prozent hätten eine Tradition des Schlagens in der Familie: "Prügelnde Väter und Mütter sind selber geprügelt worden."

Gewaltbereitschaft lässt sich umerziehen

Allerdings greifen nicht alle geprügelten Kinder später zur Waffe: Gewaltbereitschaft lasse sich umerziehen, sagt der Jugendpsychotherapeut Oelsner: "Das ist eine verflixte Mühe, aber auch nicht ohne Chance." In der Vorpubertät, also ab etwa zwölf Jahren, käme außerdem die Möglichkeit der Selbsterziehung dazu: Jugendliche können sich also neu definieren, sich neue Vorbilder, etwa Fußballtrainer oder Nachbarn, suchen. "Da kann also ein Saulus noch zum Paulus werden – oder aber das Gegenteil", sagt Oelsner.

Denn auch Kinder aus liebevollen Elternhäusern können gewalttätig werden. "Wir dürfen nicht vergessen, dass Gewalt eine Faszination ausübt", sagt Oelsner. In jedem Menschen stecke per se ein riesiges Aggressionspotential und "das will in sozial und kulturell verträgliche Bahnen gelenkt werden."