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Arno Lustiger gestorben

Jochen Kürten18. Mai 2012

Der Historiker verlieh jüdischen Widerstandskämpfern Wort und Stimme. Im Krieg hatte er Grauenvolles erlebt. In den 1980er Jahren begann er zu schreiben: über Nazigreuel und jüdischen Widerstand.

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Arno Lustiger (Foto: picture alliance dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Wie muss es 40 Jahre in diesem Mann ausgesehen haben? Wie mag er gelebt haben, wie waren seine Gedanken - hinter der gutbürgerlichen Existenz in Frankfurt nach dem Krieg? Warum schweigen Menschen überhaupt jahrzehntelang, wenn sie doch soviel zu berichten, zu erzählen hätten? Allein diese Fragen weisen auf die Ungeheuerlichkeiten hin, die sich abgespielt haben in Deutschland und Europa zwischen 1933 und 1945 und die eigentlich auch heute noch, 67 Jahre nach Kriegsende, unfassbar, unerklärlich sind. Arno Lustiger, der am 15. Mai im Alter von 88 Jahren gestorben ist, konfrontiert uns Nachgeborene auch mit diesem Schweigen.

Wie versteht man den Holocaust?

Natürlich weiß man das inzwischen alles aus den Geschichtsbüchern. Alles, was auch Arno Lustiger erlitten hat, Konzentrationslager und Todesmärsche, Hunger und Durst, Qualen der Unsicherheit, Angst. Man weiß es nicht zuletzt aus den Büchern, die Lustiger selbst seit den 1980er, 1990er Jahren geschrieben hat. Doch kann man das begreifen? Versteht man es wirklich, was Bücher, auch Filme und Fernsehdokumentationen über die Judenverfolgung uns erzählen über Holocaust und Nazigreuel? Ein Mosaiksteinchen zum Begreifen stellt auch dieses Schweigen dar, das mindestens ebenso beredt ist, wie das Aufschreiben der vielen Details der Terrorherrschaft.

Vernichtungslager Auschwitz Birkenau (Foto: ddp images/AP Photo/Czarek Sokolowski)
Konzentrationslager AuschwitzBild: AP

40 Jahre Schweigen über den Holocaust, vier Jahrzehnte nichts erzählen über Folter und Qual - auch in der Familien nicht. Arno Lustiger hat in einem Interview im vergangenen Jahr einen Grund genannt. Ein junger SS-Mann in Auschwitz, der sich offenbar gern mit dem inhaftierten Juden unterhalten hat, habe ihm gesagt: "'Du wirst nicht überleben. Aber solltest du es doch tun, wird dir niemand glauben.' Das hatte ich noch sehr lange Zeit im Kopf." Vier Jahrzehnte hatte Lustiger es im Kopf. Das muss man sich vorstellen. Wenn einer selbst seinen Kindern immer wieder erzählt, die blaue KZ-Tätowierung an seinem Arm sei bloß irgendeine Telefonnummer und nicht das Zeichen der Lagerhaft, dann sagt auch das viel aus.

Weiße Flecken füllen

Irgendwann ist es aber dann doch alles aus ihm herausgebrochen. In den 1980er Jahren begann er "die weißen Flecken der Historiographie zu füllen", wie er es ausdrückte. In den Jahren danach folgte ein Buch nach dem anderen, Essays, Aufsätze, Einlassungen. Lustiger wurde zu einem Historiker, der Bücher schrieb über den Holocaust und vor allem über die Juden, die sich gewehrt haben gegen die Vernichtung. Und über diejenigen - auch Deutsche, die den Juden geholfen haben, zu überleben. Das wurde zu Lustigers Lebensthema in den Jahren bis zu seinem Tod. Er war kein gelernter Historiker. Auch das hat zum Streit geführt mit einem anderen großen Geschichtswissenschaftler. Der Amerikaner Raul Hilberg beschrieb - als einer der ersten - den Genozid aufgrund der Akten der Täter.

Arno Lustiger wollte dieser Vorhergehensweise einen Kontrapunkt setzen. Er hatte die Sicht der Opfer, die war unvergleichlich. "Lustiger ist es zu danken, dass der Widerstand gegen den Holocaust, jener von Juden wie von Nichtjuden, seinen verdienten Platz in der Geschichte fand", so formuliert es die "Süddeutsche Zeitung" in ihrem Nachruf, "nicht wie bei Hilberg, in kühler Abwägung ihrer sehr begrenzten militärischen Mittel, sondern als Erinnerung an Menschen, die es wagten, dem Bösen entgegenzutreten." So beschäftigte Lustiger sich in seinen Büchern mit den Juden im Spanischen Bürgerkrieg, mit den Juden in der Sowjetunion, auch mit denen in Deutschland, die Widerstand leisteten. Ein anderes Interessensgebiet, das ihm am Herzen lag: Menschen, die Juden halfen, sie versteckten, retteten. Dass das auch viele Deutsche waren, und Lustiger sie benannte, sagt auch einiges aus über diesen forschenden und schreibenden Menschen aus.

Arno Lustiger (Foto: dpa)
Arno LustigerBild: picture-alliance/dpa

An der Universität des Lebens studiert

Er habe ein Art "Topografie des jüdischen Widerstands" erarbeitet, schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", und weiter: "Lustigers Werk erinnert daran, dass historische Erkenntnis von dem angetrieben wird, was sonst ungesagt bliebe." Lustiger habe "nie an einer anderen Hochschule studiert als der Universität des Lebens", merkt "Die Welt" an, "Aber was er in Archiven - und in Gesprächen mit Leuten, die dabei gewesen sind - ans Tageslicht gefördert hat, das wurde auch von den akademisch gebildeten Kollegen mit Achtung behandelt." Wie sollte es auch anders sein? Was stand denn hinter seiner Forschung und seinen Schriften? Es war doch das eigene Erleben und Leiden, zudem dann auch, später erst, die Recherche und die wissenschaftliche Arbeit kamen.

KZ-Auschwitz/Haeftlinge nach d.Befreiung Nationalsozialismus: Konzentrationslager (Foto: akg images)
Befreiung der Häftlinge in Auschwitz-Birkenau 1945Bild: picture-alliance / akg-images

Lustiger hatte sich nach dem Krieg entschieden, in Deutschland zu bleiben. Das hatte verschiedene Gründe, nicht in erster Linie, weil er dort bleiben wollte, sondern weil es ihm Länder wie die USA schwermachten oder er das Klima in Israel nicht vertrug. Dafür schwieg er dann erst einmal in Deutschland beharrlich, arbeitete erfolgreich als Textilfabrikant. Doch tief in seinem Inneren musste die Vergangenheit in ihm brodeln. Nach Draußen lassen konnte er sie viele Jahre nicht. "Ich wusste oder glaubte, die Menschen meiner Generation würden das nicht wahrhaben wollen und wegdrängen", hat Lustiger im letzen Jahr verraten. Damit hat er sicher recht gehabt. Die Deutschen haben in der Nachkriegszeit lange nicht wahrhaben wollen, was da tatsächlich geschehen ist in den Jahren zwischen '33 und '45. Arno Lustiger wusste es die ganze Zeit. Er hat es erlebt. Nur sprechen darüber konnte er nicht. Gut, dass er es dann doch irgendwann tat.