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Migration und Entwicklung

Heiner Kiesel20. Juli 2015

Eine Studie wirft neues Licht auf die Migrationswellen in der Welt. Demnach haben die Diskussionen über Zuwanderung in Europa nur wenig mit der Realität zu tun.

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Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer. Foto: REUTERS/Antonio Parrinello
Bild: Reuters

Die Bundeskanzlerin meint, die deutschen Kapazitäten zur Migranten und Flüchtlingsaufnahme seien begrenzt, und die Kommunen klagen darüber, dass sie am Ende ihrer Aufnahmekapazitäten angelangt seien. Im Fernsehen beherrschen Filmsequenzen mit übervollen Flüchtlingsbooten und überlasteten Asylunterkünften die Berichterstattung über das Thema. "Das erzeugt ein völlig falsches Bild", sagt hingegen der Migrationsforscher Jochen Otmer vom Institut für interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. In einer Studie im Auftrag der Entwicklungs- und Hilfsorganisationen Terre des Hommes und Welthungerhilfe hat er das globale Ganze der Migrationsströme untersucht. Eine zynische Schlussfolgerung, die der Leser daraus ziehen könnte: Die beste Strategie, um Migration zu behindern, ist wahrscheinlich, die Herkunftsländer verarmen zu lassen.

Aber diese Botschaft hatte Otmer natürlich nicht im Sinn, als er die Studie "Zusammenhänge zwischen Migration und Entwicklung" in Berlin vorgestellt hat. Ihm geht es darum, einen Beitrag zu liefern, die Diskussion um Migration und Zuwanderung auf eine solide Grundlage zu stellen. Vor allem reibt er sich an dem Angstszenario, das in Europa vor Zuwanderern aus Afrika und Asien aufgebaut wird. "80 bis 90 Prozent der Zuwanderer in Deutschland sind aus der EU", stellt er fest und betont, dass sich der überwiegende Teil aller Migrations- und Flüchtlingsströme eher zwischen benachbarten Staaten abspielt. "Die Wanderungsbewegungen über Kontinentalgrenzen hinweg sind sehr gering." Überhaupt scheinen die Menschen nicht sehr mobilitätsfreudig zu sein. "Deutlich weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung migriert über Staatsgrenzen hinweg, selbst von den Europäern, die doch die EU-Freizügigkeit haben, gehen nur etwa zwei Prozent ins Ausland."

Jochen Oltmer, Institut für Migrationsforschung, Universität Osnabrück DW/Heiner Kiesel
Migrationsforscher Oltmer wirft der Politik vor, mit ihren Ad hoc-Debatten auf der Stelle zu treten.Bild: DW/H. Kiesel

60 Millionen Menschen auf der Flucht

Allerdings stellt auch der Migrationsforscher aus Osnabrück nicht in Abrede, dass die Migrationsbewegungen weltweit enorm zugenommen haben. Die Vereinten Nationen sprechen von mehr als 230 Millionen Migranten. Von ihnen sind über 21 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende. Insgesamt sind derzeit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht, die Mehrheit jedoch in ihren eigenen Ländern. Die Hälfte sind Kinder unter 18 Jahren. Die Zahl der Flüchtlinge wäre damit so hoch wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg, stellt Terre des Hommes fest. Allerdings zeigt eine Hochrechnung der UN World Population Prospects, dass die Wanderungsbewegung aus weniger entwickelten in stärker entwickelte Regionen abnimmt. Seit Beginn des Jahrtausends ist sie um fünf Prozent zurück gegangen, bis zum Jahr 2050 sollen es noch einmal drei Prozent weniger sein. "Die reichen Staaten haben den Anteil an Migranten und Flüchtlingen reduziert, die ärmsten Staaten müssen immer mehr Last schultern", kritisiert Otmer. Die vertraute "Das Boot ist voll"-Diskussion könnte außerhalb Europas mit viel mehr Berechtigung geführt werden.

Bundespolizei überprüft Flüchtlinge . Foto: Armin Weigel/dpa
Die Studie fordert stabile und sichere Rahmenbedingungen für die Zuwanderer.Bild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

Hier konzentriert sich die Debatte nach Beobachtungen des Studienverfassers generell zu sehr auf Verhinderungsstrategien. Dabei scheinen diese ziemlich ins Leere zu laufen. "Ein Argument ist, die Ursachen der Auswanderung vor Ort zu beseitigen, aber wie soll das gehen, wenn dies häufig Gewalt und bewaffnete Konflikte sind?", fragt Otmer. Auch die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern ist, wenn überhaupt zu bewerkstelligen, kaum hilfreich. "Unsere Untersuchungen zeigen, dass Geld ein wichtiges Requisit für eine erfolgreiche Migration ist." Pässe, Reisekosten und -organisation, Schleuser - das alles ist teuer, und je geringer die finanziellen Mittel sind, desto kleiner sind die Chancen auf den Erfolg des Migrationsprojektes. Armut wäre somit der beste Schutz vor Zuwanderern.

Verhindern oder helfen?

Das anzustreben wäre natürlich unmoralisch und würde des Weiteren auch verhindern, dass Herkunfts- und Aufnahmeländer von der Migration profitieren könnten. "Es ist ja nicht die Frage, ob wir Zuwanderung wollen oder nicht, sondern sie ist eine Tatsache, mit der wir umgehen müssen", unterstreicht Danuta Sacher, Vorstandsvorsitzende von Terre des Hommes. Sie betont, dass es eine wichtige Zukunftsaufgabe sei, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Migration "zu einer gelingenden Sache wird". Hier seien Anstrengungen auf nationaler Ebene, aber auch bei der Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Denn, so liest Sacher aus der Studie heraus, wenn Migranten gut integriert würden und gute Chancen auf dem Bildungs- und Berufsmarkt bekämen, dann engagierten sie sich auch stärker für den Aufbau in ihrer Heimat. Für die Aufnahmeländer würde das bedeuten, dass sie noch besser von der Arbeitskraft, der kulturellen Erfahrung und dem Elan der Migranten profitieren könnten. Das Boot wäre dann voller guter Leute.

Danuta Sacher, Vorstandsvorsitzende von Terre des Hommes Foto: Heiner Kiesel, DW
Danuta Sacher von Terre des Hommes.Bild: DW/H. Kiesel