1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Antisemitismus: Jüdische Perspektive beachten

1. März 2023

Jeden Tag gibt es antisemitische Straftaten in Deutschland. Eine aktuelle Studie widmet sich der Frage: Wie nehmen Juden selbst Antisemitismus wahr - auch im Gegensatz zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft?

https://p.dw.com/p/4O6Hx
Ein Synagogenschild mit Davidstern, davor verschwommen das Licht von Kerzen
Nach dem versuchten Anschlag auf eine Synagoge in Halle an der Saale legten 2019 Menschen Kerzen niederBild: Hendrik Schmidt/dpa/picture alliance

Es sind Szenen des Alltags, die jeder kennt: Wohnungssuche, Schulfeiern, Zahnarzt-Besuche. Und doch schildern die Befragten einer neuen Studie die Situationen so, wie sie dann doch nicht jeder erlebt: Die Absage für eine Wohnung, weil der Vermieter nicht an Juden vermieten möchte; Eltern anderer Kinder, die einen in ein Rechtfertigungsgespräch über Israel verwickeln; der Zahnarzt, der sagt, Juden würden "mit dem Holocaust Politik" machen.

Es sind Szenen wie diese, welche die Publikation "Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017-2020" des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in über 150 Interviews mit jüdischen Menschen, die meisten in jüdischen Gemeinden organisiert, gesammelt und dokumentiert hat. In Deutschland leben etwa 150.000 Juden und Jüdinnen.

"Was sich durchzieht, ist dieses Alltagsprägende, also, dass Juden und Jüdinnen wirklich in ganz alltäglichen Situationen mit Antisemitismus konfrontiert sind, auch in ganz banalen Situationen, denen man nicht aus dem Weg gehen kann", sagt einer der Autoren der Studie, Daniel Poensgen. Er ergänzt: "Ich habe das Gefühl, wenn die Mehrheitsgesellschaft darüber spricht, ist Antisemitismus oft ein Problem der politischen Ränder oder etwas, was im politischen Raum vorkommt, auf Demonstrationen etwa, denen man vielleicht auch gut aus dem Weg gehen kann. Aber die Schilderungen, die wir berichtet bekommen haben, die sprechen eine ganz andere Sprache."

Verschiedene Wahrnehmung von Antisemitismus

"Perspektivendivergenz" - mit diesem Begriff umschreibt die RIAS-Befragung die Kluft, die zwischen Mehrheitsgesellschaft - also dem überwiegenden Teil der Bevölkerung, der nichtjüdisch ist - und jüdischen Betroffenen von Antisemitismus existiert. Die Kluft der Wahrnehmung, was Antisemitismus ist und wie er sich äußert, kann stark abweichen, resümiert die Befragung: beispielsweise, wenn nach dem terroristischen Anschlag in Halle auf eine Synagoge 2019 medial von einem "Alarmsignal" gesprochen wird - während für Betroffene längst der Ernstfall eingetreten ist, mit dem sie seit Jahren gerechnet hatten.

Antisemitismus: Warum er so hartnäckig ist

Oder, wenn "der Antisemitismus immer der Antisemitismus der Anderen ist", wie es Poensgen beschreibt, also Antisemitismus immer nur dann benannt wird, wenn es politisch passt und den Gegner diskreditieren kann. Gleichzeit habe eine befragte Person in den Interviews die jüdische Perspektive auf den Punkt gebracht, indem sie fragte: "Von wem geht er nicht aus?" Es gäbe ja unterschiedliche Weltanschauungen, die Antisemitismus hervorbrächten - und mit diesen seien jüdische Betroffene alle gleichzeitig konfrontiert. Das "sorgt gemeinsam für ein großes Bedrohungsszenario", so Poensgen.

AJC: Antisemitismus zunehmend als Problem erkannt

Betroffene stärker zu berücksichtigen, das wird nicht nur beim Antisemitismus immer häufiger gefordert. Auch bei Rassismus und Sexismus kommen inzwischen häufiger Betroffene zu Wort. Das scheint auch die Wahrnehmung der Gesellschaft zu verändern: Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) Berlin aus dem vergangenen Jahr zeigte, dass 60 Prozent der Befragten Antisemitismus als ein weit verbreitetes Problem wahrnehmen. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, zeigte sich angesichts des gestiegenen Bewusstseins für das Problem zufrieden und sagte, bei seinem Amtsantritt 2018 hätten das nur 20 Prozent der Befragten gesagt.

Auch Daniel Poensgen sieht positive Ansätze und vermutet, dass sich seit dem Ende der Befragung im Jahr 2020 auch einiges in der Gesellschaft getan haben könnte - fügt aber hinzu: "Es gibt auch noch viele Ansätze, wo die Betroffenen-Perspektive noch gar keine Rolle spielt." Als Beispiel nennt Poensgen die documenta fifteen in Kassel im vergangenen Jahr, eine der bedeutendsten Kunstaustellungen der Welt, auf der zu Beginn eine Zeit lang antisemitische Karikaturen auf einem Kunstwerk zu sehen waren, bis diese schließlich verdeckt wurden. "Die jüdische Gemeinde in Kassel spielte in der allgemeinen Debatte kaum eine Rolle", sagt Poensgen. Es seien zwar einzelne jüdische Stimmen zu Wort gekommen, aber eine systematische Miteinbeziehung der Perspektive habe nicht stattgefunden.

Kassel documenta15 | Abbau antisemitisches Bild
Das umstrittene Großbanner auf der Documenta 15 in Kassel wird abgebautBild: Uwe Zucchi/dpa/picture alliance

Wie sicher sind Jüdinnen und Juden in Deutschland?

Die 150 Interviews verdeutlichen: Die Realität von Juden und Jüdinnen unterscheidet sich noch immer stark von der Realität jener, die nicht mit Antisemitismus konfrontiert sind. "Von Antisemitismus Betroffene müssen tagtäglich eine Abwägung treffen zwischen einem Bekenntnis zu ihrer jeweiligen jüdischen Identität einerseits und einer Umgangsweise, die das Risiko antisemitischer Vorfälle minimiert, andererseits", heißt es dazu in der RIAS-Publikation. Das betreffe beispielsweise die Sicherheit der Synagogen und jüdischen Kindergärten, aber auch die Frage, wie offen jüdische Symbole getragen werden. Alles Fragen, mit denen sich die Mehrheitsgesellschaft nicht auseinandersetzen müsse.

"Insgesamt würde ich mir von einer stärkeren Berücksichtigung der Betroffenen-Perspektive erhoffen, dass dieser alltagsprägende Charakter stärker ins Bewusstsein der Debatte rückt", resümiert Poensgen. "Aber eben auch, dass antisemitische Handlungen auch jenseits der Strafbarkeitsgrenze stärker berücksichtigt werden."

Oder wie es eine befragte Person aus der Befragung schildert: "Es muss nicht immer körperliche Gewalt sein, um ein Zuschnüren der Kehle, der eigenen Kehle zu merken - und das gibt es zuhauf."