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Ankaras langer Weg nach Europa

Rainer Sollich2. Oktober 2005

Der Beginn von Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei wäre ein Meilenstein bei der Annäherung dieses Landes an die EU. Der türkische Weg nach Europa begann jedoch schon viel früher.

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Immer noch überall präsent:<br> Republikgründer Kemal AtatürkBild: AP

Wenn es 1923 bereits die Möglichkeit gegeben hätte, einen Beitrittsantrag zur Europäischen Union zu stellen - der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hätte wohl nicht lange gezögert. Der charismatische General war begeistert von der "europäischen Zivilisation" und pries sie den Massen in Anatolien als leuchtendes Vorbild an. Die Folge: Bis heute gilt ein EU-Beitritt bei den türkischen Eliten als nationale Prestigefrage und als Vollendung des Atatürkschen Erbes.

1923 - 1938: Atatürks Kulturrevolution

Mustafa Kemal Pascha Atatürk
Kemal AtatürkBild: dpa

Tatsächlich waren es geradezu revolutionäre Umwälzungen, die die ersten zehn Jahre nach der Republikgründung prägten. Nachdem der Unabhängigkeitskrieg gegen die westlichen Alliierten und aufständischen Minderheiten der Armenier und Griechen gewonnen war, brach Kemal Atatürk radikal mit der Vergangenheit. Atatürks Ziel: aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat nach europäischem Vorbild zu formen.

Schon 1924 wurde das Kalifat abgeschafft - damit wurde der Islam aus der Politik in die Privatsphäre verbannt. Zugleich war dies der Beginn einer beispiellosen, von oben herab verordneten Kulturrevolution, die aus heutiger Sicht eher kurios anmutet, aber aus damaliger Perspektive durchaus ernsthaft auf Europäisierung abzielte: Statt der orientalischen Kopfbedeckung, dem Fez, wurden Männer plötzlich per Gesetz gezwungen, europäische Hüte zu tragen - Zuwiderhandlungen wurden teilweise sogar mit der Todesstrafe geahndet. "Eine zivilisierte, internationale Kleidung ist würdig und passend für unsere Nation", erklärte Atatürk kategorisch.

1930: Frauenwahlrecht

Auch auf anderen Feldern wurde die Türkei strikt auf europäischen Kurs gebracht. So führten Kemal Atatürk und die nach ihm benannten Kemalisten die lateinische Schrift anstelle der arabischen ein. Das Rechtssystem wurde europäischen Standards angepasst, die muslimische Zeitrechnung zugunsten des Gregorianischen Kalenders aufgegeben.

Obendrein setzte sich Atatürk in der traditionell von Männern beherrschten türkischen Gesellschaft für die Emanzipation der Frauen ein, denen er schon bald das aktive und passive Wahlrecht gewährte. Vor allem forderte er sie nachdrücklich auf, den Schleier abzulegen: "Die Frauen sollen ihre Gesichter der Welt zeigen", befand der Volkserzieher Atatürk, "und sie sollen die Welt mit ihren Augen aufmerksam betrachten können".

1952: NATO-Beitritt

Eine türkische Fahne weht am 11.2.2003 in Brüssel vor einer NATO-Fahne
Seit 1952 ist die Türkei NATO-MitgliedBild: dpa

Die eigentliche Einbindung der Türkei in die westliche Gemeinschaft begann aber erst nach Atatürks Tod (1938): Infolge des nach dem Zweiten Weltkrieg entstehenden Ost-West-Konflikts sah sich die Türkei gezwungen, ihre bisherige Neutralitätspolitik aufzugeben. 1952 wurde sie Mitglied der NATO, 1964 trat das Assoziationsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), dem Vorläufer der heutigen EU, in Kraft. Wegen ihrer strategischen Lage am Bosporus und ihrer langen Grenze zur Sowjetunion galt die Türkei aus Sicht der USA und der Europäer damals als unverzichtbarer Partner, dem lange Zeit auch Menschenrechtsverletzungen nachgesehen wurden.

1974: Zypern-Konflikt

Das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei war in den Zeiten des Ost-West-Konflikts aber auch immer wieder handfesten Krisen ausgesetzt. Dies gilt vor allem für das Jahr 1974, als die Türkei einen griechischen Militärputsch zum Anlass nahm, um den Nordteil Zyperns zu besetzen und dort einen international nicht anerkannten türkischen Teilstaat zu schaffen.

UN-Friedenstruppe auf Zypern
UN-Friedenstruppe auf ZypernBild: AP

Während die damalige Europäische Gemeinschaft das türkische Vorgehen als Invasion verdammte, sah die türkische Wahrnehmung ganz anders aus: Man habe die türkischen Zyprer vor Übergriffen schützen müssen, hieß es aus Ankara. Und trotz der Vertreibung von rund 160.000 Insel-Griechen beteuerte der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit öffentlich: "Wir gehen nicht für den Krieg, sondern für den Frieden auf die Insel. Und wir wollen dabei nicht nur den Türken, sondern auch den Griechen Frieden bringen."

1980er und 1990er: Kurdenkonflikt

Öcalan
Abdullah Öcalan bei seiner FestnahmeBild: AP

In den 1980er und 1990er Jahren war es vor allem der Kurdenkonflikt, der immer wieder für Spannungen zwischen der Türkei und Europa sorgte. Rund 30.000 Menschen kamen bei den blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und türkischen Sicherheitskräften ums Leben. Seit der Verhaftung von PKK-Chef Abdullah Öcalan 1999 hat der Konflikt allerdings deutlich an Intensität verloren - zumal die jetzige Regierung den Kurden unter dem Druck der EU deutlich mehr Rechte zubilligt und ihre kulturelle Identität auch längst nicht mehr mit dem früher gebräuchlichen Begriff "Bergtürken" verleugnet.

Lesen Sie weiter: Putsch gegen Erbakan, Erdogan wird Ministerpräsident und sein Wandel zum Befürworter von Beitrittsverhandlungen.
1997: Putsch gegen Erbakan

Necmettin Erbakan
Necmettin ErbakanBild: AP

Auch innenpolitisch gab es immer wieder Rückschläge auf Ankaras Weg nach Europa. Dreimal seit 1960 sah sich das Militär gezwungen, vorübergehend die Macht in der Türkei zu übernehmen, weil Fanatiker von links und rechts das Land ins Chaos zu stürzen drohten. Der erste islamistische Regierungschef der Türkei, Necmettin Erbakan, wurde 1997 ebenfalls auf Betreiben der traditionell mächtigen Militärs aus dem Amt gehievt.

2003: Erdogan wird Ministerpräsident

Schröder mit Erdogan, Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer.
Schröder mit ErdoganBild: AP

Es erscheint wie eine Ironie der Geschichte, dass es keineswegs ein überzeugter Laizist wie Atatürk, sondern ein Ziehsohn Erbakans ist, der in den vergangenen Jahren für eine Stabilisierung des Landes und damit für eine weitere Annäherung an die EU gesorgt hat: Regierungschef Recep Tayyip Erdogan startete seine Polit-Karriere einst als überzeugter Islamist und saß deshalb vorübergehend sogar hinter Gittern.

Inzwischen gilt Erdogan in Europas Hauptstädten als gefragter Gesprächspartner und hat mehr demokratische Reformen auf den Weg gebracht als jeder andere türkische Regierungschef der vergangenen Jahrzehnte. Erdogan selbst hat keine Schwierigkeiten, seinen Wandel vom Islamisten zum überzeugten Europäer zu erklären. "Ja, ich war damals gegen die EU", hat er einmal gesagt, "aber heute besagt unser Parteipogramm ganz klar, dass wir für den Beitritt sind."

2005: EU-Beitrittsverhandlungen

Möglicherweise wird also ein geläuterter Islamist Atatürks Vermächtnis erfüllen und die Türkei nach Europa führen. Damit wäre Erdogan ein herausragender Platz in den türkischen Geschichtsbüchern sicher. Anhänger der alten Atatürk-Ideen vor allem innerhalb des Militärs und der Staatsbürokratie unterstellen ihm allerdings, er verberge seine wahren Absichten und strebe unter dem Deckmantel der EU-Annäherung eine schleichende Re-Islamisierung der Türkei an.

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