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Literatur

Angelika Schrobsdorff: "Du bist nicht so wie andre Mütter"

Courtney Tenz Heike Mund, db
9. Oktober 2018

In ihrem stark biographischen Roman erzählt Schrobsdorff vom Leben ihrer jüdischen Mutter, einer unkonventionellen Frau im Berlin der Weimarer Zeit. Ein ganz persönlicher Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. 

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film still ARD-Zweiteiler "Else"
Bild: picture-alliance/dpa/U. Düren

1893 wird Else Kirschner in eine wohlhabende Berliner Kaufmannsfamilie hineingeboren. Sie wächst, zusammen mit ihrem Bruder, wohlbehütet auf - die Familie ist jüdisch, aber sie pflegt einen offenen Umgang mit christlichen Freunden. Else fühlt sich zur christlichen Kultur hingezogen. 

Angelika Schrobsdorffs Roman erzählt die Geschichte ihrer Mutter Else - und gleichzeitig von deutscher Geschichte zur Zeit des Ersten Weltkriegs, der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die politischen Ereignisse werden Teil des Privaten, das Private politisch.

Die Geschichte begleitet die Familie im Berlin der Weimarer Zeit, auf ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten und später wieder bei der Rückkehr nach Berlin. Die Leser bekommen eine Vorstellung davon, wie sehr die Ereignisse, von denen wir sonst nur in Geschichtsbüchern lesen, das Leben einzelner Familienmitglieder damals beeinflussten und auf den Kopf stellten. 

Angelika Schrobsdorff: "Du bist nicht so wie andre Mütter"

"Im August 1914 brach der Krieg aus und im Hause Kirschner die Panik. Ihre Tochter, gerade zwanzig geworden, war noch immer nicht in den sicheren Hafen der Ehe eingelaufen, und in Kriegszeiten wurden die Männer knapp oder hatten Dringenderes zu tun, als zu heiraten." 

Schrobsdorff schreibt davon, wie banal und weitgehend unbeeindruckt von den Kriegsereignissen das Leben damals weiterging. Von Anfang an ist allerdings klar, dass die Romanheldin Else nicht so ist wie andere ihrer Generation.

Rekonstruktion einer Flucht

Else lebt ein wildes, ungezügeltes Leben im Berlin der Goldenen Zwanziger Jahre. Sie brennt mit dem Künstler Fritz durch, mit dem sie zwei Kinder hat. Immer auf der Jagd nach Vergnügungen, schmeißen sie großartige Partys mit illustren Gästen - der intellektuellen Elite der Epoche.

Als Else von einem anderen Mann schwanger wird, verlässt Fritz sie. Das kleine Töchterchen wächst vaterlos auf. Im Alter von zehn Jahren muss Angelika mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Bulgarien fliehen. Das Familiendrama steht im Mittelpunkt der Geschichte, aber wie ein roter Faden zieht sich auch die andauernde Ungewissheit aufgrund der politischen Umstände durch den Text.

Angelika Schrobsdorff
Angelika Schrobsdorff 2007 in KölnBild: picture-alliance/dpa

Angelika Schrobsdorff hat detailliert die Flucht ihrer Familie rekonstruiert. Sie zeichnet nicht nur die historischen Ereignisse nach, sondern auch die widersprüchlichen Emotionen, die ihre Familienangehörigen beim Verlust ihrer Heimat erleben. Die Ankunft in Bulgarien beschreibt sie als verstörende Erfahrung:

"Bulgarien war in der Tat nicht so bequem, so ordentlich und so sauber wie das Dritte Reich, nirgends war es doch so bequem, so ordentlich und so sauber! Dass meiner Mutter die Ironie ihrer Worte nicht aufgefallen ist!"

Das Private war auch politisch

Angelika Schrobsdorff, Schriftstellerin
Erfolgreiches Debüt 1961 mit "Die Herren" Bild: Imago/Leemage

Der Roman verarbeitet persönliche Erinnerungen der Autorin, Erinnerungen anderer Zeitgenossen und Briefe ihrer Mutter Else, die diese mit der Verwandtschaft ausgetauscht hat. Gespiegelt über diese privaten Aufzeichnungen und persönlichen Erinnerungen wird vom Ende des sogenannten "Dritten Reiches" über die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre zerstörten Heimatländer bis zur Teilung Europas erzählt.

Alles aus einer Perspektive, die das Geschehen greifbar und als persönliches Schicksal nachfühlbar macht. Der Roman ist die Biographie einer ungewöhnlichen Kindheit und die einer ungewöhnlichen Mutter - einer Frau, die Astrologen konsultierte, um herauszufinden, wie sie ihren Tag am besten planen sollte. "Du bist nicht so wie andre Mütter" ist eine humorvolle, manchmal liebevolle Erzählung über ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte.

 

Angelika Schrobsdorff: "Du bist nicht so wie andre Mütter" (1992), dtv Verlag 

Die deutsche Schriftstellerin und Schauspielerin Angelika Schrobsdorff (1927-2016) wuchs in Berlin als Tochter einer assimilierten Jüdin auf. 1939 floh sie mit ihrer Mutter nach Bulgarien, ihre Großeltern mütterlicherseits kamen während des Krieges ums Leben - die Großmutter im KZ Theresienstadt und der Großvater in Berlin als Folge einer Krankheit.

1947 kehrte Schrobsdorff nach Deutschland zurück und feierte 1961 mit ihrem Debütroman "Die Herren" große Erfolge. Sie war mit dem französischen Regisseur Claude Lanzmann ("Shoa") verheiratet und gehörte in den 1970er Jahren zum intellektuellen Zirkel um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Nach ihrer Scheidung lebte sie zeitweise in Israel. Sie starb 2016 in Berlin. Ihr autobiografische Roman "Du bist nicht so wie andre Mütter" wurde ein Bestseller und 1999 verfilmt, mit Katja Riemann in der Hauptrolle (unser Artikelbild).