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Suche nach einer anderen Politik

Jannis Papadimitriou, Athen9. Juni 2013

Tausende Aktivisten und Gewerkschafter aus ganz Europa haben sich zu einem Alternativgipfel der sozialen Bewegungen in der griechischen Hauptstadt getroffen. Ihr Ziel: Neue Wege aus der Krise zu finden.

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Teilnehmer beim Alternativ-Gipfel in Athen (Foto: AFP/Getty Images)
Bild: Giorgos Nikolaidis/AFP/Getty Images

In einem "Manifest der Menschen" erläutern die Teilnehmer zum Abschluss des sogenannten europäischen Alternativgipfels in Athen, worum es ihnen geht: Sie betrachten die Schulden der Euro-Krisenländer als illegitim, weil sie "ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl entstanden sind", und sie rufen zum Widerstand gegen die Sparpolitik und wachsende Ungleichheit auf. Zudem wollen die Aktivisten "gesellschaftliche und ökologische" Gemeingüter stärken und europäische Institutionen einer stärkeren Kontrolle unterwerfen.

Ganz unumstritten war das "Manifest" nicht. Vielen war der Textentwurf nicht radikal genug. Es gab zudem deutliche Auseinandersetzungen darüber, ob die Krisenländer ihr Heil in der Flucht aus dem Euro und EU-System suchen sollten. Christian Pilichowski glaubt das nicht. Der Delegierte der französischen Metallgewerkschaft FTM CGT plädiert für Lösungsansätze innerhalb Europas. Er fordert auch einen Richtungswechsel, da die Kürzungspolitik aus seiner Sicht die Schuldenkrise nicht bekämpft, sondern auch noch verstärkt. "Es geht hier nicht um eine griechische, spanische oder portugiesische Krise. Wir haben eine gesamteuropäische Krise", mahnt der Gewerkschafter. Aus Wut über die Sparpolitik stellten sich viele Menschen gegen die EU, doch das Problem sei nicht Europa, sondern die Art und Weise, wie in Europa Politik gemacht werde. Um die Krise zu überwinden, müsse man Löhne und Gehälter erhöhen sowie die Rechte der Arbeitnehmer stärken, fordert Pilichowski.

Christian Pilichowski beim Alternativgipfel in Athen (Foto: DW/Jannis Papadimitriou)
Christian Pilichowski kritisiert, die Sparpolitik sei der falsche Weg, um aus der Krise zu kommenBild: DW/J.Papadimitriou

Sanierungsfall Frankreich?

Das flächenmäßig größte EU-Land war besonders stark vertreten beim Alternativgipfel: Delegierte aus 24 französischen Gewerkschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) fanden den Weg nach Athen, erhoben ihre Stimme für ein soziales Europa und erklärten sich solidarisch mit den griechischen Gastgebern. Ob da auch die Angst mitschwang, Frankreich könnte zum nächsten Krisenfall werden?

Pilichowski glaubt nicht an die heilende Kraft des Marktes. "Austerität ist nicht der richtige Weg", kritisiert der CGT- Funktionär die strenge Sparpolitik. Und er zeigt sich verärgert über den Kurs des französischen Präsidenten François Hollande. Seine Politik sei nur die Fortsetzung dessen, was sein Vorgänger Nicolas Sarkozy auch gemacht habe. Frankreich brauche aber stattdessen einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit. Die Gewerkschaften hätten in dieser Zeit die Pflicht, die Menschen aufzuklären; deshalb sei auch er zum Athener Gipfel gekommen, sagt Pilichowski. 

Die meisten Teilnehmer der Beratungen in Athen waren eindeutig links orientiert. Einen kurzen Gastauftritt hatte der griechische Oppositions-Chef Alexis Tsipras, der in aktuellen Meinungsumfragen fast gleichauf mit dem konservativen Premier Antonis Samaras liegt.

Teilnehmer beim Alternativgipfel in Athen (Foto: DW/Jannis Papadimitriou)
Vertreter linker und sozialer Bewegungen aus ganz Europa berieten in Athen über Alternativen in der PolitikBild: DW/J.Papadimitriou

Mit der Wahl der griechischen Hauptstadt als Veranstaltungsort für den Alternativgipfel wollten die Sozialbewegungen ein Zeichen der Solidarität mit dem krisengeschüttelten Land setzen. In ihrem "Manifest" wird die Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds scharf kritisiert. In vielen Workshops erklärten die Aktivisten aus ganz Europa, Griechenland diene als Studienfall, denn es sei ein vielaussagendes Beispiel für das, was als Folge der rigorosen Sparpolitik auch in anderen EU-Ländern drohe. 

Studienfall Griechenland: Ansturm auf Sozialapotheken

Wer verstehen will, warum viele Griechen gegen das "Joch der Troika" aufbegehren und sich den Linksparteien zuwenden, findet vielleicht Antworten im Gespräch mit jungen Menschen wie Irene Agathopoulou. Die 27-Jährige aus der nordgriechischen Stadt Kilkis hat sich für die Gründung von Sozialapotheken engagiert, damit Arbeitslose und andere Bedürftige kostenlos Medikamente erhalten. Beim Athener Gipfel berichtete sie von ihren Erfahrungen und auch darüber, dass Sozialapotheken einen richtigen Ansturm erlebten, weil 40 Prozent der Griechen keine Krankenversicherung mehr hätten. Erschwerend komme hinzu, dass griechische Pharma-Unternehmen ihre Produktion drosselten und ausländische Multis nur noch gegen Bargeld lieferten.

Da seien unkonventionelle Lösungen gefragt. "Wir haben bei Patienten-Familien nach Arzneimitteln gefragt, die nicht mehr gebraucht würden - von Salben bis hin zu Krebsmedikamenten", erzählt Agathopoulou. Allein in ihrer Heimatstadt Kilkis gebe es über 800 Menschen, die auf Sozialapotheken angewiesen seien. Gelegentlich würden sogar Krankenhäuser von Sozialapotheken beliefert, was streng genommen nicht erlaubt sei.

Irene Agathopolou beim Athener Alternativgipfel (Foto: DW/Jannis Papadimitriou)
Engagement für Sozialapotheken: Irene AgathopoulouBild: DW/J.Papadimitriou

Das Sozialprojekt in Kilkis machte Schlagzeilen über die Grenzen der Region hinaus. Bei der Wahl im Juni 2012 kandidierte Agathopoulou für die Linkspartei SYRIZA und wurde eher überraschend ins Parlament gewählt. Mit 27 Jahren ist sie heute die jüngste Abgeordnete des Hauses und will nun auch international aufmerksam machen auf griechische Sozialprojekte. Sie habe wegen ihres Einsatzes für Sozialapotheken schon Anfragen aus anderen EU-Ländern erhalten, berichtet die Apothekerin und Jungpolitikerin. Die Leute fragten, ob sie durch Medikamentensendungen oder in sonstiger Weise helfen könnten.

Die Griechenland-Krise als mahnendes Beispiel vor Augen, erklärten viele Gipfelteilnehmer, die Sparpolitik habe fatale Folgen für die Gesundheitsversorgung der Europäer. Sowohl die flächendeckende Versorgung mit Medikamenten als auch die Sozialversicherungssysteme in sämtlichen EU-Ländern drohten zusammenzubrechen, hieß es in Athen. In ihrem Manifest forderten die europäischen Sozialbewegungen auch, Privatisierungen im Gesundheitswesen zu stoppen.

Migrantenschutz in Krisenzeiten

Ein weiterer Schwerpunkt des Athener Treffens war die Situation der Migranten und die Aufnahme von Flüchtlingen auf der "Wohlstands-Insel Europa". Auch zu diesem Thema gebe es in Griechenland reichlich Anschauungsmaterial, erklärten die Gipfelteilnehmer. Bei einem Besuch auf der drittgrößten griechischen Insel Lesbos, unweit der türkischen Küste, konnte etwa die Bundestagsabgeordnete der Linken, Annette Groth, im April Erstaunliches beobachten: "Es fehlt an allem", schildert sie nun in Athen ihre Eindrücke. "Die Flüchtlinge werden dort von der Bevölkerung verpflegt, es sind zwanzig Frauen, die jeden Tag kochen", erläutert die deutsche Politikerin. Auf der Insel gebe es kein richtiges Aufnahmelager für Flüchtlinge, sondern lediglich einige Polizeistationen und ein geschlossenes Hafenareal unter freiem Himmel, berichtet Groth.

Annette Groth beim Alternativgipfel in Athen (Foto: DW/Jannis Papadimitriou)
Annette Groth von den Linken fordert stärkeren Rechtsschutz für FlüchtlingeBild: DW/J.Papadimitriou

In Athen wollte sich die menschenrechtspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion für einen stärkeren Rechtsschutz von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten einsetzen. Deshalb war sie enttäuscht, dass diese aus ihrer Sicht wichtigen Anliegen bei den Beratungen unberücksichtigt blieben. Sie sei regelrecht entsetzt gewesen, als der Vorschlag gekommen sei, die europäische Sozialbewegung solle sich auf eine Kampagne zur Ratifizierung der UN-Konvention zum Schutz der Migranten fokussieren. Das könnten Politiker oder Anwaltsvereine doch besser machen, von der Sozialbewegung würde sie etwas Anderes erwarten, so Groth. "Da gibt es genug, wir müssen zum Beispiel eine Kampagne gegen Dublin 2 starten."   

Im "Manifest der Sozialbewegungen" werden ein Ende der Sammellager für Flüchtlinge und die Auflösung der EU-Grenzschutzagentur Frontex gefordert. Weitere Vorschläge zu diesem Thema blieben eher vage. Aber man sollte auch nicht zu viel erwarten, glaubt der Franzose Karim Essahli, der ursprünglich aus Marokko stammt, seit 19 Jahren in Oslo lebt und den norwegischen Gewerkschaftsverband LO beim Athener Gipfel vertrat. Den Großteil der Arbeit müsse ohnehin jede Sozialbewegung im eigenen Land erledigen, betont Essahli. Es sei aber wichtig, dass man sich kenne und europaweit koordiniere. Aus diesem Grund sei er nach Athen gekommen.

Karim Essahli beim Alternativgipfel in Athen (Foto: DW/Jannis Papadimitriou)
Karim Essahli: Europaweite Koordination ist wichtig für die SozialbewegungenBild: DW/J.Papadimitriou

Zum Abschluss des Alternativgipfels versammelten sich die Teilnehmer in der Athener Innenstadt zu einer Großdemonstration, um gegen die rigorose Sparpolitik zu demonstrieren.