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Algerier entscheiden über Amnestie

29. September 2005

Algeriens Präsident Bouteflika lässt nach über zehn Jahren bürgerkriegsähnlicher Gewalt über eine "Friedenscharta" abstimmen. Die Opposition fordert jedoch stattdessen die Aufklärung der Gewalttaten.

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Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika will den Neubeginn - zu seinen BedingungenBild: AP

Präsident Abdelaziz Bouteflika will einen Schlussstrich unter die "blutigen Jahre" Algeriens ziehen. In einem Referendum soll das von brutaler Gewalt und sozialen Missständen gepeinigte 32-Millionen-Volk an diesem Donnerstag (29.9.2005) einem Bündel umstrittener Maßnahmen zustimmen und mit Bouteflikas "Charta für Frieden und Versöhnung" den Weg zu einer Amnestie ebnen. Diese wird aber vor allem von Angehörigen der im Bürgerkrieg der 1990er Jahre spurlos "verschwundenen" Algerier abgelehnt.

Der 1992 begonnene Bürgerkrieg zwischen dem Militärregime und den muslimischen Fundamentalisten hat nach vorsichtigen Schätzungen 150.000 Menschen das Leben gekostet. Damals brach die Armee in einem kalten Staatsstreich die Parlamentswahlen kurzerhand ab, als deren Sieger, die fundamentalistische Islamische Heilsfront (FIS), fast schon feststand. Ein beispielloses gegenseitiges Abschlachten begann, das erst in den vergangenen Jahren allmählich abebbte.

Islamisten teilweise, Staatsbedienstete durchweg straffrei

Bei der Amnestie soll der Anschein eines Ausgleichs zwischen den Bürgerkriegsparteien erweckt werden. Sie soll für alle Islamisten gelten, die den bewaffneten Kampf beendet haben und nicht an Massakern, Bombenanschlägen oder Vergewaltigungen beteiligt waren. Oftmals sind aber Massaker den bewaffneten islamistischen Gruppen angekreidet worden, ohne dass klar war, wer die Auftraggeber waren.

Die algerischen Behörden haben eine internationale Untersuchung stets verweigert und damit den Verdacht bestärkt, Teile der Armee oder die Geheimdienste könnten verwickelt sein. Was die über 6000 "Verschwundenen" betrifft, sichert die Amnestie nun allen Staatsbediensteten völlige Strafffreiheit zu. In der "Charta" steht, "dieses Verschwinden ist eine Folge der kriminellen Aktivitäten der blutrünstigen Terroristen (…), jedes Mal, wenn Straftaten von Staatsbediensteten begangen wurden, sind sie von der Justiz sanktioniert worden."

Stille Übereinkunft

Damit erfüllt Bouteflika seinen Teil der stillen Übereinkunft mit den dereinst mächtigen Generälen, die 2004 seine Wiederwahl akzeptierten. Gleichzeitig klingt es aber fast wie ein Geständnis, wenn es in der Charta weiter heißt: "Der Staat nimmt sich dem Schicksal aller Personen an, die im Kontext der nationalen Tragödie verschwunden sind" und entschädigt ihre Angehörigen. Sie sollen bis zu 50.000 Euro bekommen, dafür allerdings verbindlich auf eine gerichtliche Aufklärung der Fälle verzichten. Nach dem Referendum soll die Charta weder in Algerien noch im Ausland angefochten werden können.

Der Referendumstext enthält zudem ein Politikverbot für frühere Islamisten: Alle, die in der Vergangenheit "die Religion instrumentalisiert haben", müssen sich "jedweder Form der politischen Aktivität enthalten". Allerdings wird auch hier mit zweierlei Maß gemessen, wie die französische Tageszeitung Libération berichtet. Ali Benhadj, früherer Partei-Vize der FIS, muss weiter schweigen. Madani Merzag, dereinst Chef des bewaffneten Arms der FIS, darf Kampagne machen - für das Referendum.

Vorbereitung für eine dritte Amtszeit?

Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien ziehen gegen "Straffreiheit für Bürgerkriegsverbrecher" zu Felde - eine Amnestie untergrabe "die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Zustände" und behindere den Weg Algeriens zum nachhaltigen Frieden, kritisiert Amnesty International. "Keine Straffreiheit im Namen der 'Versöhnung'", so hält der in Paris ansässige Menschenrechtsverband FIDH Bouteflika entgegen: Die Opfer und ihre Familien könnten auf dem Weg endgültig um ihr Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit gebracht werden. Hocine Ait Ahmed von der oppositionellen Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) meint, Bouteflika habe noch anderes im Sinn: Mit dem Referendum wolle er sich schlicht den Weg zu einer dritten Amtszeit frei machen. Dafür müsste der Präsident die Verfassung ändern.

Seit April 1999 im Amt, hatte Bouteflika früh eine «Politik der Versöhnung» begonnen. Geschickt hat der 68-jährige Präsident des Ölstaates Algerien in sechseinhalb Jahren seine Position gefestigt und dabei vor allem die allmächtigen Generäle nach und nach aus der Politik verdrängt oder auf seine Seite gezogen. Ein erneutes "Ja" zur Versöhnungspolitik wie bei einem ersten Referendum von 1999 machte ihn stark wie schon lange keinen algerischen Präsidenten mehr.

Morde vor der Abstimmung

Aber auch in den Tagen vor dem Referendum hört das Morden nicht auf. Zwar verkündete Innenminister Nouredine Yazid Zerhouni, es gebe nur noch etwa 100 aktive Terroristen, die Anschläge planten. Doch die versprengten Restgruppen lockten derweil östlich wie westlich von Algier das Militär in Fallen und brachten mindestens 13 Menschen um. Auch scheint die bisher bei der Gewalt tonangebende "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf" (GSPC) ihre Drohung wahrmachen und sich verstärkt auf Anschläge im Ausland konzentrieren zu wollen. Dafür spricht die Zerschlagung einer GSPC-Zelle in Frankreich. (ois)