Affenpocken: Enger Kontakt reicht aus
27. Juli 2022Etwa eine halbe Million Menschen feierten am 23. Juli 2022 in den Straßen Berlins den Christopher Street Day. Es war die erste CSD-Parade seit dem Beginn der Coronapandemie. Das Ereignis war eines der größten in der Geschichte der Stadt. Die Euphorie, dass der CSD endlich wieder stattfinden kann, war groß, die Stimmung ausgelassen. Teilnehmende sangen, tanzten, tranken, küssten und umarmten sich.
Am späten Nachmittag erreichten die ersten Paradewagen das Brandenburger Tor, wo die Abschlussveranstaltungen stattfanden. Dann aber kam eine Eilmeldung, die die Stimmung bei einigen getrübt haben dürfte: Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte die Affenpocken zu einer "Notlage von internationaler Tragweite" erklärt.
Das Bewusstsein über den Ausbruch war auf dem CSD durchaus präsent. Einige Teilnehmende hielten Schilder hoch, auf denen sie die deutsche Regierung aufforderten, mehr Impfstoff gegen das Virus bereitzustellen. Andere verteilten Broschüren, in denen auf die Symptome eingegangen wurde und darauf, wie man Affenpocken überhaupt erkennen kann. Und die Veranstalter veröffentlichten einen Hinweis auf ihrer Webseite.
Trotzdem gab es wesentlich mehr Schilder, auf denen kostenlose Küsse und Umarmungen angeboten wurden als solche, die zu Maßnahmen gegen die Krankheit oder zur Aufklärung darüber aufgerufen hätten.
Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden
Mitarbeitende des öffentlichen Gesundheitswesens und Sprecher von LGBTQ-Organisationen in den USA und Europa haben sich bislang schwergetan, Männern, die Sex mit Männern haben, über die Risiken des Virus aufzuklären, ohne die Menschen, die sie erreichen wollen zu stigmatisieren.
Dies hat oft zu Meldungen geführt, die implizierten, dass das Virus jeden treffen kann und vor allem, dass das Infektionsrisiko bei allen ähnlich hoch ist.
Dass sich grundsätzlich jeder mit Affenpocken anstecken kann, stimmt. In den USA haben sich etwa auch zwei Kinder infiziert, wie die Gesundheitsbehörde CDC mitteilte. Es wurde vermutet, dass dies über eine Übertragung im Haushalt geschehen ist. Nichtsdestotrotz deuten bisher alle gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hin, dass das Risiko für Männer, die Sex mit Männern haben, und diejenigen, die verschiedene Sexualpartner haben, deutlich höher ist als für diejenigen, die nicht zu diesen Gruppen gehören. Aus einer Studie, die am 21. Juli im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden war, geht hervor, dass 98 Prozent aller Fälle von Affenpocken bei Männern festgestellt wurden, die Sex mit Männern hatten.
Dennoch sind viele Fragen zu möglichen Übertragungswegen noch nicht geklärt und auch nicht, welche Personen ein hohes Infektionsrisiko haben.
Affenpocken - eine sexuell übertragbare Infektion (STI)?
In der Studie wurden Proben von über 520 Infektionen in 16 Ländern zwischen April und Juni 2022 analysiert. Sie zeigt, dass das Virus in 95 Prozent der Fälle durch "sexuelle Aktivitäten" übertragen wurde.
Die Autoren stellten jedoch auch fest, dass "es keine eindeutigen Beweise für eine sexuelle Übertragung durch Samen- oder Vaginalflüssigkeiten gibt" und dass das Virus nachweislich nur durch große Tröpfchen in der Atemluft, durch engen oder direkten Kontakt mit Hautverletzungen übertragen wird und möglicherweise durch kontaminierte Infektionsträger, wie Tücher oder Küchenutensilien.
Klar ist allerdings, dass das Virus durch sehr engen Kontakt zwischen Menschen übertragen wird. Dies kann sowohl beim Kuscheln und Küssen als auch bei Genitalkontakt passieren.
Übertragung von Affenpocken durch sexuellen Kontakt ist denkbar
"Affenpocken werden mit ziemlicher Sicherheit sexuell übertragen", sagt Paul Hunter, Professor für Gesundheitsschutz an der Norwich Medical School in Großbritannien. Er habe jedoch Bedenken, Affenpocken als sexuell übertragbare Infektion einzustufen, denn bei den meisten sexuell übertragbaren Krankheiten sei das Tragen eines Kondoms, das Vermeiden von Penetration oder direktem oral-analem oder oral-genitalem Kontakt eine gute Möglichkeit, um eine Übertragung zu verhindern. " Aber bei den Affenpocken ist schon nacktes Kuscheln ein großes Risiko", so der Wissenschaftler weiter.
Die Einstufung der Affenpocken als Geschlechtskrankheit könnte sich negativ auf die Eindämmung auswirken, wenn die Menschen glauben, dass sie vor einer Ansteckung mit dem Virus sicher sind, solange sie beim Sex ein Kondom benutzen oder nicht in den Körper eindringen, gibt Hunter zu Bedenken.
Luka Cicin-Sain,Forscher für Virusimmunologie am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) stimmt zu, dass die Einstufung der Affenpocken als sexuell übertragbare Infektion (STI) und die Fokussierung auf Kondome als Präventionsmethode "als Eindämmungsstrategie nach hinten losgehen könnte".
Laut Cicin-Sain ist in der Forschung derzeit noch unklar, ob das Virus ausschließlich durch Sperma oder auch durch engen Kontakt, durch Speicheltröpfchen oder Haut-zu-Haut-Kontakt verbreitet wird. Obwohl virale DNA in Samenproben gefunden wurde, gab es keine Hinweise darauf, dass der Samen infektiös war. "Die Situation ist ähnlich wie bei COVID, das auch durch intimen Kontakt und Küssen verbreitet werden kann, das aber nicht als Geschlechtskrankheit gilt", so Cicin-Sain.
Wie können Infektionen verhindert werden?
Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass eine Verbreitung durch schnelle Impfkampagnen eingedämmt werden könnte. Da sich die Übertragung der Affenpocken nach bisherigen Erkenntnissen offenbar mehr oder weniger auf eine Gruppe konzentriert, könnte ein sofortiges Impfprogramm immer noch für eine Herdenimmunität sorgen, rät Paul Hunter von der Norwich Medical School.
Nach Angaben der WHO infiziert ein homosexueller Mann mit Affenpocken durchschnittlich ein bis zwei Personen, während Personen, die nicht in diese Gruppe gehören, weniger als eine Person anstecken. "Wir müssten also nur etwa die Hälfte der Menschen in der Hochrisikogruppe impfen, um eine Herdenimmunität zu erreichen", so Hunter.
Der Wissenschaftler schlägt vor, den Impfstoff allen Personen anzubieten, die sich in einer Klinik für sexuelle Gesundheit vorstellen. Viele der Menschen, die bisher positiv auf Affenpocken getestet wurden, leben auch mit HIV und suchen daher bereits regelmäßig Kliniken auf. Das gilt auch für diejenigen, die sich zu sehr aktiven sexuellen Netzwerken hingezogen fühlen und ebenfalls einem höheren Risiko ausgesetzt sind.
Die Krankheit braucht mehr Aufmerksamkeit
Hugh Adler von der Abteilung für klinische Wissenschaften an der Liverpool School of Tropical Medicine hat mit Affenpocken-Patienten gearbeitet. Er hofft, dass die Erklärung der WHO mehr Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit von Impfstofflieferungen lenkt und auch in der Politik eine höhere Priorität bekommt. Es sei jedoch noch zu früh, um zu sagen, ob dies der Fall sein wird, so Adler.
"Das hängt davon ab, als wie relevant und wichtig eine WHO-Erklärung von Regierungen, von öffentlichen Einrichtungen, Impfstoffherstellern und Impfstofflieferanten eingestuft wird". sagt Adler. Zudem hänge es auch davon ab, wie das Infektionsrisiko von Menschen weltweit eingeschätzt werde. Mit dem Anstieg der Fälle in den USA und im Vereinigten Königreich sowie dem Fehlen einer angemessenen Impfstrategie in vielen Ländern nehme die Gefahr zu, dass sich bei Männern, die Sex mit Männern haben, die Infektion voll etabliert.
In diesem Jahr wurden weltweit bisher über 16.000 Fälle von Affenpocken festgestellt. Fünf Todesfälle wurden in Afrika gemeldet. In Deutschland wurden über 2200 Fälle registriert.
Adler sagt, dass die Fälle in Europa, dem Vereinigten Königreich und den USA zwar glimpflich verlaufen seien, dass dies aber in West- und Zentralafrika, wo das Virus zirkuliert, nicht der Fall ist und die Sterblichkeitsrate dort wesentlich höher ist.
Andere wiederum befürchten, dass die Stigmatisierung von Menschen mit dem Virus die Inanspruchnahme des Impfstoffs in gefährdeten Bevölkerungsgruppen verhindern wird.
"Zum jetzigen Zeitpunkt wird es schwer zu verhindern sein, dass die Affenpocken zu einer weiteren endemischen Krankheit in Hochrisikogruppen werden", sagt Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. "Ich befürchte, dass die Stigmatisierung bereits zu weit verbreitet ist, und das wird sich auf den Zugang zu Impfstoffen, auf die frühzeitige Meldung von Fällen und die Nachverfolgung von Kontakten auswirken."
Adaptiert aus dem Englischen von Gudrun Heise.