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Zurück ins Lager: Asylsuchende ohne Anspruch auf Wohnung

3. Februar 2023

In Griechenland müssen Asylsuchende ihre Wohnungen verlassen und zurück in Flüchtlingslager ziehen. Athen versichert, der Standard dort sei hoch. Migrationsexperten sprechen von bewusster Isolierung der Schutzsuchenden.

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Griechenland Abschreckung für Flüchtlinge
Registrier- und Identifikationszentrum Diavata in Nordgriechenland Bild: Florian Schmitz/DW

Rana ist 20 Jahre alt und lebt in einem Flüchtlingslager irgendwo auf dem griechischen Festland. Da sie negative Konsequenzen für ihren laufenden Asylantrag befürchtet, will sie weder ihren echten Namen noch ihren exakten Aufenthaltsort preisgeben. 2018 ist sie mit ihrer Familie von Afghanistan über die Türkei nach Griechenland geflohen. Ihr Vater ist herzkrank, und ihr Bruder hat Epilepsie. Darum galt die 5-köpfige Familie als besonders verletzlich und hatte Anspruch auf eine Wohnung im Rahmen des ESTIA-Programms.

ESTIA steht für Emergency Support to Integration and Accommodation. Dieses Programm, finanziert vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der EU, entstand 2015 mit dem Ziel, besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden eine Wohnung zu finanzieren. Das sollte auch ihre Integration in die Aufnahmegesellschaft befördern.

Im Dezember 2022 ließ die griechische Regierung das Programm auslaufen und Rana musste mit ihrer Familie zurück in ein Lager ziehen.

Drei junge Asylsuchende auf dem Viktoriaplatz in Athen, früher ein Treffpunkt für Migranten, heute fast leer
Sie sollen zurück ins Camp: junge Asylsuchende auf dem Viktoriaplatz in Athen, früher ein Treffpunkt für Migranten, heute fast leerBild: Florian Schmitz/DW

Beim Gespräch mit der Deutschen Welle kommen ihr immer wieder die Tränen: "Ich war mit meiner Schwester in Griechenland in der Schule. Als wir im Camp ankamen, sagte man uns, dass es in der Lagerschule keinen Platz mehr für uns gibt", berichtet sie. Man sagte ihr, sie können in der Stadt zur Schule zu gehen. Aber der Weg dorthin ist viel zu weit, und so habe sie sich schweren Herzens dagegen entschieden.

Ein leerer Container, sonst nichts

Die Familie musste ihr ganzes Leben in der Stadt zurücklassen. "Als wir im Lager ankamen, war unser Wohncontainer vollkommen leer. Es gab nicht mal Matratzen", erinnert sich Rana. Zwei Tage hätte die Familie auf dem Boden geschlafen und dann ihre Matratzen aus ihrer alten Wohnung in der Stadt geholt. Das war vor zwei Monaten. Bis heute stehen sie nicht auf der Ausgabeliste für die Mahlzeiten. "Sie geben uns Reste, wenn alle anderen im Camp ihr Essen bekommen haben", sagt Rana. Ohnehin seien die Mahlzeiten kaum genießbar. Immerhin haben sie inzwischen einen Herd und können selbst kochen.

Der Asylantrag der Familie wurde bereits zweimal abgelehnt. Doch das war, bevor die Taliban im August 2021 Kabul einnahmen. Seitdem ist es um die Theorie der EU-Staaten, Afghanistan sei ein sicheres Herkunftsland, still geworden. Nun wartet die Familie auf eine neue Entscheidung der griechischen Behörden. Da Brüssel und Athen die Türkei als sicheres Drittland einstufen, befürchtet Rana, dass auch dieser Versuch erfolglos sein und die Familie in die Türkei geschickt werden könnte.

Weiße Wohncontainer stehen in Reih und Glied in einem griechischen Flüchtlingslager
In solchen Containern werden die Flüchtlinge und Migranten untergebrachtBild: Florian Schmitz/DW

Das ewige Warten und die Unsicherheit sind eine immense psychische Belastung für die Migranten. Grundidee des ESTIA-Programms war es eigentlich, würdige Wohnverhältnisse inmitten der Gesellschaft zu schaffen, um den Leidensdruck der Menschen zu lindern. In Griechenland waren dafür zu Beginn etwa 20.000 Plätze vorgesehen.

Im Februar 2022 kündigte die griechische Regierung das Ende von ESTIA bis Ende des Jahres an. Laut Ministerium für Migration waren zu diesem Zeitpunkt 12.648 Menschen über das Programm in Wohnungen untergebracht. Viele von ihnen hätten inzwischen ihre Bescheide über Anerkennung oder Nichtanerkennung bekommen. Auf Anfrage der DW hieß es, dass am Ende weniger als 500 Menschen von Wohnungsräumungen betroffen gewesen seien, weil man in den letzten Monaten keine weiteren Personen mehr in das Programm aufgenommen habe. 

Flüchtlinge abschrecken

Die Anwältin Christina Svana hält die Beendigung des ESTIA-Programms für einen Fehler und verweist auf die weiter bestehende Bedürftigkeit vieler Asylsuchender. Sie arbeitet für FENIX, eine Nichtregierungsorganisation, die Menschen auf der Flucht Rechtsberatung und -beistand gewährt. Seit Athen das Ende von ESTIA bekannt gab, erreichten sie viele verzweifelte Berichte von Klienten: "Wir haben gesehen, wie hart diese Entscheidung umgesetzt wurde. In vielen Fällen haben sie die Menschen nur einen oder zwei Tage vorher benachrichtigt, dass sie ausziehen mussten." Das sei für die Betroffenen, die sich häufig bereits eingelebt hatten, sehr schwer gewesen.

Anwältin Christina Svana in ihrem Büro am Telefon und an ihrem Computer
Anwältin Christina Svana hält die Beendigung des ESTIA-Programms für einen FehlerBild: Florian Schmitz/DW

Svana sieht die ESTIA-Einstellung als Teil der Regierungsagenda, Asylsuchende abzuschrecken: "Seitdem die Regierung 2019 an die Macht kam, sehen wir einen dramatischen Rückgang, was die Leistungen oder auch die Rechte für Menschen auf der Flucht angeht. Es sind inzwischen geschlossene Zentren auf den Inseln entstanden und kontrollierte, eingemauerte Lager auf dem Festland." Der griechische Staat lege es darauf an, Menschen auf der Flucht vom Rest der Gesellschaft zu trennen.

Kein politischer Wille

Nun müssten auch Flüchtlinge, die besonders auf Hilfe angewiesen seien, zurück ins Lager, erklärt Svana; dieselben Menschen also, die das Ministerium eigentlich schützen wollte. Svanas Kollegin, Ines Avelas, Advocacy- und Strategieleiterin bei FENIX, hält die Einstellung des ESTIA-Programms für politisch motiviert.

Die  Leiterin der EU-Taskforce Migrationsmanagement in Brüssel habe FENIX schriftlich mitgeteilt, dass die griechischen Behörden aufgrund des "signifikanten Rückgangs der Ankünfte und der verringerten Auslastung in den Aufnahmezentren" entschieden hätten, das Projekt auslaufen zu lassen. Dabei sei die Finanzierung durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU (AMIF) bis 2027 sichergestellt.

Asylsuchende in Griechenland: Zwangsumzug ins Lager

"Wir verstehen das so, dass das Ende des Programms eine Entscheidung der griechischen Regierung war und keine budgetären Gründe hatte", so Avelas.

Die griechische Regierung weist dies zurück. Der Deutschen Welle teilte das zuständige Migrationsministerium mit, dass das ESTIA-Programm zwar über den AMIF-Fond finanziert werden könne, jedoch "keine weiteren Mittel zur Verfügung gestellt worden seien." Die Europäische Kommission teilte der DW auf Anfrage mit: "Schlussendlich obliegt es den griechischen Behörden, in welcher Form man Aufnahme [von Flüchtenden] anbietet und das zur Verfügung gestellte Budget auf Rechtsgrundlage der EU-Regularien nutzt."

Integration als Lippenbekenntnis

Athen sieht durch das Ende des ESTIA-Programms keine Probleme für die Betroffenen. Man hätte diesen eine Alternative in Wohneinrichtungen gegeben, "die in Gänze mit den internationalen und europäischen Gesetzesvorgaben vereinbar sind", teilte das Migrationsministerium schriftlich mit. Diese Einrichtungen würden den Bewohnern "Sicherheit, Essen und angemessene Lebensverhältnisse bieten".

Außerdem ginge es nur um Menschen, die sich im Asylprozess befänden. Laut Ministerium "erhielten die meisten Asylsuchenden vor Ende des Programms eine Entscheidung und wurden bei negativer Entscheidung abgeschoben oder ihnen wurde bei positiver Entscheidung eine Unterkunft und finanzielle Hilfe über das HELIOS-Integrationsprogramm angeboten."

HELIOS ist ein ebenfalls von der EU finanziertes Integrationsprogramm für Menschen, die bereits Asyl in Griechenland erhalten haben. Das Programm an sich sei gut, sagt Lefteris Papagiannakis von der griechischen Nichtregierungsorganisation Greek Council for Refugees. Für bis zu einem Jahr gebe es Hilfe bei der Arbeitssuche und eine Wohnung.

Lefteris Papagiannakis in seinem Büro
Lefteris Papagiannakis wirft der griechischen Regierung vor, die Integration von Migranten absichtlich zu erschwerenBild: Florian Schmitz/DW

"Das Problem ist, dass man bereits eine Wohnung haben muss, um überhaupt in das Programm zu kommen", so Papagiannakis . Schwierig werde es wenn die Hilfe nach einem Jahr auslaufe und es dann nicht weitergehe.

"Es wird also etwas aufgebaut, was dann verloren geht", kritisiert er. Viele Menschen mit positiver Asylentscheidung stünden auf der Straße oder müssten zurück in die Lager. Papagiannakis bezweifelt, dass Griechenland es ernst meint mit den Integrationsbestrebungen: "Diese Regierung ist Geflüchteten und Migranten gegenüber feindlich gesinnt."

 

Porträt eines Mannes mit braunen Haaren und Bart
Florian Schmitz Reporter mit Schwerpunkt Griechenland