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Ägypten Unruhen

21. November 2011

Versuche des ägyptischen Militärs, sich langfristig politischen Einfluss zu sichern, haben eine gefährliche Eskalation in Gang gesetzt. Europa muss hier eindeutig Position beziehen, meint Rainer Sollich.

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Bild: DW

Als die Ägypter im Februar durch friedliche Massenproteste das Regime von Hosni Mubarak stürzten, ging eine Woge der Sympathie durch Europa. Junge Ägypter demonstrierten für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit – für "unsere“ Werte. Sie forderten den Aufbau einer Zivilgesellschaft. Erleichtert registrierten wir, dass bei den Protesten weder israelische noch amerikanische Fahnen brannten. Und dass die jungen Leute sich mit Hilfe von "westlichen“ Kommunikationsmitteln wie Facebook organisierten, nährte das Gefühl: Die Ägypter sind wie wir. Sie holen jetzt nur nach, was die Völker Mittel- und Osteuropas zwei Jahrzehnte zuvor erreichten, als sie mit friedlichen Bürgerprotesten ihre kommunistischen Herrscher zu Fall brachten.

Aber die Ägypter sind nicht wie wir Europäer. 20 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, rund 40 Prozent können nicht richtig lesen oder schreiben, die Hälfte aller Jugendlichen zwischen 20 und 24 Jahren ist arbeitslos. Seit Jahrzehnten schon sorgt ein rasantes Bevölkerungswachstum dafür, dass der Anteil der Jugendlichen immer größer wird - und damit auch das Potential für Unzufriedenheit und Unruhen, das zusätzlich durch steigende Lebensmittelpreise angefacht wird. Mubaraks Sturz hat an dieser schwierigen Lage nichts geändert. Verglichen mit Ägypten, leben in Europa sogar die Bürger Griechenlands in relativ stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen.

Rainer Sollich (Foto DW/Per Henriksen)
Rainer SollichBild: DW

Kann das Militär die Stabilität garantieren?

Die ägyptische Realität unterscheidet sich jedoch auch in anderer Hinsicht von Europa: Die Idee einer noch stärker religiös geprägten Gesellschaftsordnung könnte in Ägypten laut allen bekannten Umfragen durchaus mehrheitsfähig sein, ebenso die Revision des Friedensvertrags mit dem weithin verhassten Nachbarn Israel. Beides könnte durchaus offizielle ägyptische Staats- und Regierungspolitik werden, wenn aus den am 28. November beginnenden Parlamentswahlen, wie allgemein erwartet, die Muslimbrüder und radikalere islamistische Bewegungen als Sieger hervorgehen. Beides entspricht aber nicht den Interessen und Idealen europäischer Politik.

Es gibt eine Instanz, die eine allzu starke „Islamisierung“ der ägyptischen Innen- und Außenpolitik verhindern könnte: Das derzeit noch übergangsweise herrschende Militär versucht mit vielerlei Tricks, seine Macht in die Zukunft zu retten. Es will die Unantastbarkeit seiner wirtschaftlichen Interessengeflechte absichern, versteht sich aber offenbar auch als Garant für Ägyptens Stabilität und Berechenbarkeit. Aus westlicher Perspektive könnte dies verlockend erscheinen. Aber Vorsicht - dies wäre dieselbe Schein-Stabilität wie unter Mubarak, genauso zum Scheitern verurteilt.

Demokratie und neue Herausforderungen

Dass ein Gremium aus nicht gewählten Militärs die oberste Kontrolle über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung haben und sich selbst der demokratischen Kontrolle entziehen will, ist für viele Ägypter verständlicherweise nicht hinnehmbar. Dagegen sind sie jetzt in Kairo, Alexandria und anderen Städten erneut auf die Straßen gegangen. Und die Sicherheitskräfte haben es erneut nicht vermocht, die drohende Eskalation abzuwenden. Sie setzten Gewalt ein. Die Stimmung ist dadurch gefährlich aufgeladen, Ägypten könnten äußerst chaotische Zeiten drohen.

Im Kern geht es darum, ob das Land eine echte Demokratie werden darf - oder ob die Militärs ihren Einfluss behalten. Europa muss hier eindeutig sein und konsequent das Recht der ägyptischen Bürger auf politische Selbstbestimmung unterstützen - auch wenn sie mehrheitlich Parteien wählen sollten, die uns missfallen. Zugleich müssen die Europäer sich aber auch auf neue Herausforderungen und Risiken einstellen.

Die europäische Außenpolitik benötigt ein Konzept für den Umgang mit zunächst vermutlich weiteren neuen islamistisch geprägten Regierungen in der Region: Nach welchen Kriterien stufen wir sie als "radikal“ oder "gemäßigt“ sein, wie weit ist Dialog möglich, welche Einflussmöglichkeiten hat Europa? Wichtige Fragen, die eine Woche vor Beginn der wegweisenden Ägypten-Wahl noch ungeklärt sind.

Autor: Rainer Sollich
Redaktion: Sonila Sand