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"Über Karlsruhe ist nur der blaue Himmel"

Danhong Zhang
28. September 2016

Kummerkasten der Nation oder geheime Regierung? Das Bundesverfassungsgericht wird von den Bürgern geschätzt und von der Politik gefürchtet. Vor genau 65 Jahren wurde es offiziell eröffnet.

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Deutschland Bundesverfassungsgericht Karlsruhe zu EZB Anleihenkäufe
Die Verkündung des Urteils über die Anleihekäufe der EZB im Juni 2016Bild: Reuters/R. Orlowski

Das Bundesverfassungsgericht (kurz: BVG) hat seinen Sitz in einem unspektakulären Gebäude in einer unspektakulären Stadt in Baden-Württemberg. Dort wird ein Schatz gehütet: das Grundgesetz. Es ist ein Schatz, den die 16 Ritter, Pardon, Richter in zwei Senaten in fast ländlicher Idylle gegen alle Angriffe verteidigen. Dafür tragen sie weder Kettenhemd noch Schwert, sondern scharlachrote Roben. 

Udo Di Fabio, der ehemalige Verfassungsrichter (1999-2011), der heute Staatsrecht an der Universität Bonn lehrt, sieht das BVG als ein "Gegengewicht zur politischen Mehrheitsentscheidung". Da, wo die Grundrechte einzelner oder einer Minderheit verletzt sind, werden der gesetzgebenden Mehrheit Grenzen gesetzt. So sah sich die Berliner Wirtin Sylvia Thimm in ihrem Grundrecht auf freie Berufsausübung durch das absolute Rauchverbot für kleine Gaststätten in der Hauptstadt beeinträchtigt, da sie um ihre meist qualmende Stammkundschaft fürchten musste. Sie zog 2008 nach Karlsruhe und bekam im selben Jahr recht. 

Durch solche Beispiele fühlen sich viele Bürger ermutigt und wollen ebenfalls klagen. Aber nicht jedes individuell empfundene Unrecht rechtfertigt eine Verfassungsbeschwerde: Weit über 90 Prozent der über 6000 Klagen, die jährlich in Karlsruhe eingehen, werden nicht zugelassen, weiß Di Fabio. Was aber nicht bedeute, dass nicht genau hingeschaut werde. "Jeder Fall wird von drei Richtern und wissenschaftlichen Mitarbeitern geprüft." Jeder Beschwerdeführer bekomme eine Antwort, wenn auch mitunter ohne Begründung. "Das hat der Gesetzgeber so vorgesehen, weil jede auch Begründung einen hohen Abstimmungsbedarf unter den drei Richtern erzeugt", so Di Fabio weiter. 

Deutschland Prof. Udo Di Fabio
Der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di FabioBild: DW/Z. Danhong

Kurioser Fall

Die geringe Annahmequote hält die Bürger aber nicht davon ab, das oberste Gericht als eine Art Kummerkasten der Nation und letzte Instanz anzurufen. Darunter sind auch skurrile Fälle. "Da war ein Porschefahrer, der mit weit überhöhter Geschwindigkeit in einer Autobahnbaustelle unterwegs war und von einem Zivilfahrzeug verfolgt wurde", erinnert sich Di Fabio an einen Fall während seiner Zeit als Verfassungsrichter. Nachdem ein Fahrverbot verhängt worden war, legte er eine Verfassungsbeschwerde ein: Er habe sich durch den Polizeiwagen bedroht gefühlt und deshalb aufs Gaspedal getreten. Für den schlechten Scherz musste er eine Geldstrafe zahlen. 

"Jedes Jahrzehnt hat seine wichtigen Entscheidungen", meint Di Fabio. In den 1950er-Jahren ragte das Parteienverbots-Urteil heraus; die Entscheidungen gegen den Plan eines staatlichen Fernsehens und in der Spiegel-Affäre bleiben als wegweisende Urteile der 1960er-Jahre in Erinnerung. Das Urteil über die Ostverträge 1973 beeinflusste die Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR bis zur Wiedervereinigung; zehn Jahre später legte das Volkszählungsurteil den Grundstein für den Datenschutz. In den 1990er-Jahren erhitzte die Entscheidung zum Abtreibungsrecht die Gemüter. 

Die Eurorettung landete immer wieder bei BVG

Im neuen Jahrhundert haben die Verfassungsrichter alle Hände voll zu tun mit Entscheidungen über die europäische Integration, dazu zählen Urteile über den Lissabon-Vertrag, die Griechenland-Rettung und die Anleihekäufe der EZB. Es sind alles "Ja, aber"-Urteile. Das heißt, das Gericht will dem Integrationsprozess nicht im Wege stehen, mahnt aber Grenzen an. "Im Lissabon-Urteil hat das BVG eine solche Grenze markiert: Wenn man den Schritt in den Bundesstaat geht, ist das Grundgesetz keine taugliche Grundlage mehr, weil das Grundgesetz davon ausgeht, dass sich ein souveräner Staat an einer europäischen Einheit beteiligt", sagt Di Fabio. Was im Klartext heißt: Bevor sich die EU zu einem Bundesstaat wandeln kann, müsste Deutschland seine Verfassung ändern. Mit dem gegenwärtigen Grundgesetz wäre dieser Schritt jedenfalls nicht möglich.

Bundesverfassungsgericht
Ein schmuckloser Zweckbau - das Bundesverfassungsgericht in der früheren badischen Landeshauptstadt KarlsruheBild: dpa

Dass Karlsruhe durch solche Grenzziehungen quasi mitregiert - von der geheimen Regierung ist die Rede -, darüber sind manche Politiker gar nicht begeistert. Bereits Adenauer stellte resigniert fest: "Über Karlsruhe ist nur der blaue Himmel!", womit er sein Bedauern äußerte, dass die Richter keiner höheren Instanz Rechenschaft schuldig sind. "Wir lassen uns doch von den Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputtmachen", entfuhr es Herbert Wehner, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden in den 1970er-Jahren einmal. Die Kruzifix-Entscheidung von 1995 erzürnte die bayerische Regierung so sehr, dass sie trotz des Urteils ein eigenes Kruzifix-Gesetz schuf. 

Das letzte Wort hat Karlsruhe

Das BVG ist mächtiger als die meisten Gerichte auf der Welt. Sein Urteil ist das letzte Wort. Aber die acht Richter in einem Senat sind sich keineswegs immer einig. Die Minderheit darf ihre Meinung unter dem Urteil in einem sogenannten Sondervotum darlegen - auch eine Besonderheit des Verfassungsgerichts. "Man kann manchmal an den Sondervoten, manchmal auch am Tonfall der Sondervoten sehen, dass es im Senat hoch hergegangen sein muss", erzählt Di Fabio mit einem Schmunzeln. 

Symbolbild Deutschland Kopftuch
Immer wieder steht das Kopftuch im FokusBild: picture-alliance/dpa/U. Deck

Manchmal widersprechen sich auch die zwei Senate. So entschied der zweite Senat 2003 im sogenannten Kopftuch-Urteil, dass das Land Baden-Württemberg einer Kopftuchtragenden Lehrerin nicht einfach so die Einstellung verweigern könne. Die Landesregierung ein entsprechendes Gesetz aber durchaus erlassen könne. Damit konnte das Urteil als ein indirektes Kopftuchverbot verstanden werden. 2015 plädierte der erste Senat dann für ein Verbot des Kopftuchverbots, das heißt der seit dem ersten Urteil geschaffenen Gesetze. "Es sind zwei unterschiedliche Ansichten, die da durch zwei Senate repräsentiert werden", meint Di Fabio.

Was absehbar ist: Die Integration der Einwanderer wird in den nächsten Jahren das dominierende Thema bleiben. Die Probleme dabei spalten nicht nur die Gesellschaft, sie werden auch die deutschen Gerichte bis hinauf zum BVG auf Trab halten. Zwar hat sich am grundsätzlichen Wohlwollen gegenüber Einwanderern nichts geändert, weil aber die (vor allem muslimischen) Einwanderer immer offensiver Sonderrechte einfordern oder andernfalls über Diskriminierung klagen, werden die Richter zögerlicher, solchen Wünschen nachzugeben. Das ist zumindest die Beobachtung des ehemaligen Verfassungsrichters.