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Über die Grenzen der Sprache

20. November 2009

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

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DP Kultur Symbolbild Buchmanieren

Ludwig Wittgensteins Notiz "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt", lässt sich pessimistisch oder optimistisch auffassen. Pessimisten stoßen schnell an die Grenze, wenn Sie z.B. zum wiederholten Male wahrnehmen, dass es im Deutschen beim Trinken kein Äquivalent zum Zustand "satt" gibt. Man isst sich satt, aber wie heißt es, wenn man genug getrunken hat?

Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Sie stehen an der Grenze der deutschen Welt, wechseln wir lieber hinaus ins Weite, in andere Sprachen. Was es da für Worte gibt: im Idiom der Osterinseln, dem Rapa Nui, gibt es ein Wort für jemanden, der nach und nach Dinge von einem Freund ausleiht, bis dessen Haus leer ist. Das Wort heißt tingo. Behalten Sie es im Hinterkopf, wenn Sie das nächste Mal ein Buch an einen Freund entleihen, der schon eines von Ihnen hat. Er betreibt wahrscheinlich hakamaroo, das ist ebenfalls Rapa Nui, und bedeutet: ausgeliehene Gegenstände zu behalten, bis der Besitzer sie zurückfordert.

Wörter für Ästheten

Ästheten können natürlich gar nicht genug Wörter haben, um ihr Wohlgefallen und ihre Beobachtungskunst unter Beweis zu stellen. Sie erfreuen sich im Japanischen am wabi, einem fehlerhaften Detail, das bewusst geschaffen wird, um die Eleganz des Gesamtkunstwerks zu betonen. Das Italienische kennt die sprezzatura als Ausdruck für die mühelose Technik eines großen Künstlers. Die Art und Weise, wie dessen Kunst unsere Wahrnehmung verändert, nennen die Russen ostranenie. Ich brauche meinen kleinen Gedankengang nicht zu einer unnötig langen und ermüdenden Geschichte zu machen – für die das Jiddische das Wort megillah hat – Sie haben die Pointe längst erkannt: Die Grenzen meiner Sprache mögen die Grenzen meiner Welt sein, aber die Welt der Sprache ist grenzenlos.

Alles Schnee

Das in diesem Zusammenhang am häufigsten zitierte Beispiel sind die unzähligen Bezeichnungen, die es in der Sprache der Eskimos für den Schnee gibt. Eine Auswahl:

Foto: Thomas Böhm Programmleiter des Kölner Literaturhauses
Thomas Böhm Programmleiter des Kölner LiteraturhausesBild: birgit rautenberg

Schnee kanikshaq

Kein Schnee aputaitok

Erster Schneefall apingaut

Wellige Schneeoberfläche kaiyuglak

Tiefer Schnee, der so leicht ist,

dass ein Mensch hindurchgehen kann katiksugnik

Weicher und tiefer Schnee, für

den Schneeschuhe nötig sind taiga

Verkrusteter Schnee, der beim

Betreten bricht karakartanaq

Schneeverwehung an einem

Hohen Punkt, die kurz davor

ist herabzustürzen mavsa

Redaktion: Gabriela Schaaf

Alle Beispiele in diesem Text stammen aus: Adam Jacot de Boinod: "Was heißt hier Tingo? Und andere verrückte Worte aus aller Welt". Goldmann TB 2007. 8,95 Euro