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Über die Brücke gehen

30. August 2014

Im Alter lassen die Kräfte nach, auch die geistigen. Alte Menschen sind oft darauf angewiesen, dass man ihnen entgegenkommt. Das fällt manchmal schwer, wie Gerhard Engelsberger für die evangelische Kirche beschreibt.

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Vietnamesische Altenpflegerinnen für Deutschland 31.01.2014 München
Bild: imago/epd

Das Alter ist nicht nur ein Segen
70 oder 80 Jahre waren in biblischer Zeit ein kaum vorstellbares Alter. Jedenfalls nicht für die Normalbevölkerung. Die Israelitischen Könige starben in der Regel nicht einmal 50-jährig. Das dürfte die Lebenserwartung damals gewesen sein. Heute werden Menschen bald doppelt so alt. Was für eine Wucht. Was für ein Geschenk! Was dem einen ein Segen, scheint allerdings dem anderen und seinen Verwandten ein Fluch.

Die Bibel ist ein ehrliches Buch. Nichts wird beschönigt, nichts wird ausgeklammert. Auch heute würde sie erzählen von Kriegen, Fluchten, von Geburten und Wünschen. Heute würde die Bibel staunen, wie alt in vielen Ländern die Menschen werden. Und würde klagen über ein Phänomen, das sich mit zunehmender Lebenserwartung offensichtlich ergibt: Ich meine die Demenz.

Jeder erfährt das Älterwerden anders. Mit dem Alter ist es wie mit Geburt und Tod: Das kann mir keiner abnehmen. Das ist ganz meine Sache. Und doch: Je älter ich werde, wird auch mein Alter zu einer Angelegenheit anderer.

Zur Zeit leiden in Deutschland etwa eineinhalb Millionen Menschen an mittelschwer und schwer ausgeprägten Demenzerkrankungen. Wie damit umgehen? Wie angesichts eines verdunkelten Lebens nicht verzweifeln, sondern lieben? Wie geht das?

Arno Geiger schreibt in seinem autobiografischen Buch „Der alte König in seinem Exil“: „Für meinen Vater gibt es keine Welt außerhalb der Demenz. Als Angehöriger kann ich deshalb nur versuchen, die Bitterkeit des Ganzen ein wenig zu lindern, indem ich die durcheinandergeratene Wirklichkeit des Kranken gelten lasse. Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.“

Ich bin angewiesen auf Liebe
Es kommt die Zeit, da ich nicht mehr kann, wie ich will. Es kommt die Zeit, da nichts mehr geht wie es früher ging. Es kommt die Zeit, in der ich angewiesen bin auf Liebe, wie früher als Kind. Einer gibt dem anderen die Hand. Eine reicht der anderen den Arm. So ging das seit Jahrtausenden.

War hier Vergessen, war dort Erinnern.
War hier Schwäche, dann war dort Kraft.
War hier Ehrlichkeit, dann war auch dort Ehrlichkeit.
und beide haben sich ertragen.
Und das war gut so.

Das ist gut so, wenn einer den anderen ehrlich erträgt.
Dazu meint, Arno Geiger, müsse man über die Brücke gehen.
Dorthin, wo der andere ist.

Und so fügt sich Arno Geigers Buch über den „alten König in seinem Exil“ mit wesentlichen, ja fast biblischen Gedanken in die literarische Landschaft. Es schlägt ein Kapitel Leben aus unseren Tagen auf. Mag es das unserer Eltern sein – oder unser eigenes. Jedenfalls ist es ein Kapitel Leben, das uns angeht und der aufmerksamen Liebe bedarf, wie jedes Lebenskapitel.

Pfarrer Gerhard Engelsberger, Wiesloch
Pfarrer Gerhard EngelsbergerBild: GEP/Engelsberger

Zum Autor: Gerhard Engelsberger (Jahrgang 1948) ist seit vielen Jahren Gemeindepfarrer: zunächst in Mannheim, und seit 1981 in Wiesloch. Daneben hat er aber auch immer wieder Bücher veröffentlicht, sowie Radio- und Fernsehsendungen gestaltet. Im KREUZ - Verlag gibt er zudem die »Pastoralblätter« und die »Kasualblätter« heraus. Er ist verheiratet und hat vier Kinder – kein schlechtes Training auch für seinen Kinderchor, mit dem der Komponist und Texter bereits auf mehreren CDs zu hören ist.