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Zwischen Wachstum und Waldschutz

Nádia Pontes14. Juni 2012

Brasilien hat sich seit 1992 vom Entwicklungsland zur aufstrebenden Wirtschaftsmacht gewandelt. Das Gastgeberland von Rio+20 steht im Spannungsfeld zwischen Armutsbekämpfung und Umweltschutz.

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Tausende neuer VW-Modelle stehen auf dem Volkswagen-Gelände in Sao Paulo. Die brasilianische Industrie boomt seit Jahren, Brasilien zählt zu den am schnellsten wachsenden Schwellenländern. (Foto: AP)
Bild: AP

Galoppierende Inflation, steigende Staatsverschuldung und wachsende Arbeitslosigkeit, Studenten fordern den Rücktritt von Fernando Collor de Mello, dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten nach 20 Jahren Militärdiktatur. In dieser Atmosphäre richtete Brasilien 1992 die erste Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro aus.

Exakt zwei Jahrzehnte später, vom 20. bis 22. Juni 2012, ist Brasilien Gastgeber der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (UNCSD), kurz Rio+20. Heute ist das lateinamerikanische Schwellenland auf dem Sprung, zur globalen Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Stabile Politik und konstantes Wachstum haben Brasilien zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen lassen, hinter Frankreich und vor Großbritannien. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist in dieser Zeit von vier- auf sechstausend Dollar hochgeschnellt. 28 Millionen Brasilianer sind der absoluten Armut entkommen, 36 Millionen in die Mittelschicht aufgestiegen. Auch wenn die Vereinten Nationen Brasilien im Human Development Index nur an 84. Stelle listen, sind sich internationale Beobachter einig: Brasilien entwickelt sich stabil.

Doch der Wohlstand bringt auch Probleme mit sich: Das Land befindet sich mitten in dem soziopolitischen Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Wohlstand und Wachstum auf der einen Seite, und der Notwendigkeit, die Umwelt zu erhalten, auf der anderen. "Wir müssen unsere natürlichen Ressourcen schützen und die Abholzung des Amazonasgebietes bekämpfen. Doch gleichzeitig müssen wir die Lebensqualität der Menschen verbessern, und ihren Zugang zu Wasser, Gesundheitsversorgung und Energie sichern", bringt es Volney Zanardi Junior vom brasilianischen Umweltministerium gegenüber der DW auf den Punkt. Brasilien steht also genau vor dem Zielkonflikt, der auf der anstehenden Konferenz diskutiert werden soll.

Kahlschlag im brasilianischen Regenwald.
Der brasilianische Regenwald fällt der Expansion der Landwirtschaft zum OpferBild: picture alliance/WILDLIFE

Die Erkenntnis aus 20 Jahren Wachstum

1992 stellte in Brasilien noch niemand einen Zusammenhang zwischen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen her. "Die Umweltdebatte verstand sich als Widerstandsbewegung zur räuberischen Entwicklung der Wirtschaft", erinnert sich Zanardi Junior, der auf der damaligen Konferenz den Stadtrat von Porto Alegre vertrat.

Professor Jacques Marcovitch, ehemaliger Rektor der Universität São Paulo und Mitorganisator der UNCED 1992, hält seinem Heimatland zugute, dass in der Zwischenzeit ein Netzwerk aus Unternehmen, Universitäten und zivilem Engagement entstanden ist, um diese Probleme zu lösen. "Doch angesichts der Größe der Herausforderungen wurde nicht genug getan", urteilt er.

Die eine Seite dieser Herausforderungen zeige sich in den Städten, so Marcovitch: "Unkontrollierte Zuwanderung hat zu großer räumliche Enge geführt, wachsende Fluten von Autos verstopfen die Straßen und ineffiziente industrielle Produktion verschmutzt die Umwelt." Die andere Seite zeige sich weit weg von den großen urbanen Zentren in der Bedrohung des Waldes durch die sich ständig ausweitenden Agrarflächen und Siedlungsgebiete. "Brasilien ist eines der wenigen Schwellenländer, die mit beiden Problemen gleichzeitig zu kämpfen haben", meint der Professor für internationale Beziehungen.

Die Gefahr des Rückschritts

Marina Silva, Umweltministerin der ersten Regierung Lula, sieht den größten Fortschritt der letzten 20 Jahre im wachsenden Problembewusstsein in der Bevölkerung: "Die Menschen in Brasilien interessieren sich heute viel mehr für soziale und ökologische Belange", sagt sie im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Blick auf die Favela Rocinha in Rio de Janeiro
In den Städten wird es immer enger: Armutsbekämpfung steht ganz oben auf der Prioritätenliste der RegierungBild: DW/Sam Cowie

Doch auch wenn die Abholzung des Regenwaldes und andere illegale Machenschaften erfolgreich bekämpft wurden, sei die Gefahr nicht gebannt in alte Muster zurückzuverfallen. "Brasilien empfängt bei Rio+20 Vertreter aus 190 Ländern um über Nachhaltigkeit zu diskutieren, während die nationale Politik im Begriff ist die Gesetze zu lockern, die Regenwald, Biodiversität und indigene Völker schützen", verweist Silva auf die aktuelle Debatte um das Waldschutzgesetz "Código Florestal".

Leichen im Keller

Auch Paulo Adário, Chef der Amazonas-Kampagne von Greenpeace, teilt diese Ansicht: "Brasilien als Gastgeber der Rio+20-Konferenz ist ein Musterbeispiel für ein Land, in dem die Wirtschaft rasant wächst und ökologische und soziale Aspekte öffentlich diskutiert werden. Aber dieses Brasilien hat Leichen im Keller. Bis dort unten reicht das Licht der öffentlichen Meinung nicht. Und dort leben Menschen wie im Mittelalter." Adário meint damit die illegale Ausbeutung der Holzbestände des Amazonasgebiets und sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse im Kohleabbau, an dem international tätige Stahlproduzenten beteiligt sind.

Rio+20 mit fraglichem Fokus

"Vor 20 Jahren hieß es, Brasilien sei das Land der Zukunft. Und es scheint, als sei diese Zukunft nun angebrochen", findet Zanardi Junior und fügt hinzu: "Wir wissen nun, dass Umwelt und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden sind und das wir deshalb die Natur schützen müssen."

Indigene in Brasilien protestieren gegen den Bau des Staudamms Belo Monte. Sie befürchten die Zerstörung ihres Lebensraumes (Foto: AP)
Die indigene Bevölkerung Brasiliens kämpft für die Erhaltung ihres LebensraumesBild: AP

Diese Verbindungslinie, die erstmals auf der Konferenz 1992 gezogen wurde, sei richtig, urteilt Jacques Marcovitch. Dennoch kritisiert er den Fokus von Rio+20: "Es scheint heute, als sei der Umweltschutz hinter das Ziel zurückgetreten, die Armut zu überwinden."

Marcovitch verweist auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse: "Ein ums andere Mal weisen Forscher nach, dass Treibhausgase die Erderwärmung hervorrufen. Und dass der Klimawandel eine große Gefahr für die Menschheit darstellt." Die Welt dürfe das nicht aus den Augen verlieren, mahnt der Beirat des Weltwirtschaftsforums. "Aber auf der Rio+20-Konferenz werden die sozialen Probleme wohl ökologische Bedenken überlagern. Die Gefahr ist, dass den nachfolgenden Generationen keine Zeit mehr bleibt, das Problem zu lösen", warnt Marcovitch.