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Zwischen Triumph und Tragödie

28. Februar 2010

16 Tage, 2621 Athleten, 86 Entscheidungen, 10 Goldmedaillen für Deutschland – die nackten Zahlen lassen die Dimension der Spiele erahnen, über ihr Wesen sagen sie jedoch wenig. Eine Bilanz.

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Anni Friesinger-Postma (Foto: AP)
Nur Zentimeter lagen zwischen Frust und FreudeBild: AP

Vielleicht sind es Geschichten wie die von Petra Majdic, die erahnen lassen, welche Bedeutung dieses Event für die Teilnehmer hat. Eigentlich waren die Spiele für die Langläuferin bereits beim Warmlaufen vorbei: Bei einem Sturz in die Böschung neben der Loipe brach sich die Slowenin vier Rippen und zog sich einen Lungenfellriss zu. Aber deswegen aufgeben? Vier Jahre zehrender Vorbereitung ganz umsonst? Das wollte Majdic nicht akzeptieren, ging mit Schmerzen an den Start, lief, als ginge es um ihr Leben und warf sich mit letzter Kraft ins Ziel. Zwar konnte sie im Ziel nicht mehr ohne Hilfe aufstehen, aber sie hatte Bronze geholt – und erhielt den slowenischen Staatsorden "für besondere Verdienste".

Der lange Schatten des Nodar Kumaritaschwili

Gedenken an den verstorbenen Kumaritaschwili (Foto: AP)
Gedenken an den verstorbenen KumaritaschwiliBild: AP

Die Erkenntnis, dass sich Sportler für ihr Ziel Olympia aufopfern, hat in Vancouver einen neuen, bitteren Beigeschmack bekommen. Der tragische Tod des georgischen Rodlers Nodar Kumaritaschwili warf einen langen Schatten auf die Spiele, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht begonnen hatten. Kumaritaschwili war einer der vielen Unbekannten aus der zweiten Reihe und fiel nicht etwa seinem fahrerischen Unvermögen zum Opfer, wie den Unfall einige Funktionäre früh zu deuten wussten. Es war die olympische Bob- und Rodelbahn, jenes betongewordene Manifest des olympischen Rekordstrebens. Ganz gleich, ob Rodler, Skeleton-Piloten oder Bobfahrer - sie alle hatten auf der Weltrekordbahn ihre Mühe, ihr Sportgerät auf den Kufen ins Ziel zu bringen. Selbst ein Weltklasse-Pilot wie André Lange kam in der nach ihrer Sturzwahrscheinlichkeit zynisch nur "50:50" genannten Kurve 13 nahe an den Sturz.

André Lange im Viererbob (Foto: AP)
Letzte Ausfahrt Silber: André Lange in seinem letzten Rennen vor dem KarriereendeBild: AP

Es wäre ein unrühmlicher Abschied eines ganz Großen des deutschen Sports gewesen: In seinem Abschiedsrennen raste der weltbeste Bobfahrer noch einmal zu Silber und freute sich darüber mit seinen Anschiebern Alexander Rödiger, Kevin Kuske und Martin Putze wie ein Schneekönig. Wer geglaubt hatte, nach einer langen und erfolgreichen Karriere zähle für den vierfachen Olympiasieger nur noch Gold, sah sich getäuscht. Neben seinen jüngsten Erfolgen - Gold im Zweier- und Silber im Viererbob - ist es vor allem jene gemütliche Bescheidenheit, die die Sportwelt von André Lange in Erinnerung behalten wird.

Jung, weiblich, deutsch und erfolgreich

Für eine auffällige Mehrheit unter den deutschen Medaillengewinner galten die Attribute "jung und weiblich": Insgesamt 19 der 30 Medaillen gingen an Frauen. Darunter sind auch die Vancouver-Stars aus deutscher Sicht, Biathletin Magdalena Neuner, 23 Jahre jung, und Skiläuferin Maria Riesch, 25 Jahre jung, aber auch Nachwuchstalente, die in Kanada unverhofft ins Rampenlicht fuhren, wie die 21-jährige Eisschnelllauf-Hoffnung Stephanie Beckert oder das 20-jährige Skitalent Viktoria Rebensburg.

Maria Riesch im Super G(Foto AP)
Auf Gold-Kurs: Maria RieschBild: AP

Überhaupt waren die in den Vorjahren so oft gescholtenen alpinen Skifahrer in Vancouver die erfolgreichsten Sportler im deutschen Lager. Dank Doppel-Gold durch Riesch in der Super-Kombination sowie im Slalom und dem Überraschungs-Erfolg durch Rebensburg holten die Skiläuferinnen die meisten Olympiasiege. Für Maria Riesch, die die Spiele von Turin 2006 durch eine Verletzung verpasste, ging in Kanada ein Traum in Erfüllung: "Ich habe etwas geschafft, was erst zwei Frauen im alpinen Skisport in Deutschland gelungen ist. Mich nun bei Katja Seizinger und Rosi Mittermaier einreihen zu können, ist eine große Ehre für mich." Neben Ruhm und Ehre hat der Erfolg von Riesch noch eine dritte Dimension: Ihr Marktwert für die Sponsoren habe sich in Vancouver verdoppelt, frohlockte Rieschs Manager Marcus Höfl unlängst, der fest entschlossen ist, den olympischen Schwung nun auszunutzen. "Die nächsten vier Wochen sind ausgebucht", sagte Höfl mit Blick auf die Sponsorentermine seiner Sportlerin. Das Versilbern von Gold ist nicht erst seit Vancouver eine olympische Disziplin.

Neuner überstrahlte sie alle

Jubel bei Magdalena Neuner (Foto: AP)
Gewohnte Pose bei NeunerBild: AP

Magdalena Neuner betonte dagegen vor den Kameras, dass für sie vor allem der sportliche Wert einer Medaille zähle. Als sie auf dem Podium bei jeder ihrer drei Medaillen mit den auf sie gerichteten Scheinwerfern um die Wette strahlte, wollte man es ihr gerne glauben. Vor allem läuferisch war Neuner in der Loipe von Whistler die beste Biathletin. Im Verfolgungsrennen und im Massenstart enteilte sie der Konkurrenz, im Sprint holte sie Silber und wurde so die erfolgreichste deutsche Sportlerin der Spiele. Viel Respekt erwarb sie sich auch, als sie ihrer Mannschaftskollegin Martina Beck die Chance auf eine Medaille in der Staffel überließ, die diese dann auch zu Bronze nutzte.

Enttäuschend waren dagegen die Auftritte der Männer in beiden Disziplinen: Skiläufer Felix Neureuther hatte seine Nerven im Slalom nicht im Griff, schied nach nur wenigen Toren aus und kam im Riesenslalom nur auf Platz acht. Auch die Biathleten waren aus deutscher Sicht unter den Verlierern der Spiele. Sie schossen sich nach guten Laufleistungen am Schießstand gleich reihenweise aus den Medaillenrängen. Es war kein schöner Abschied für den scheidenden Bundestrainer Frank Ullrich.

Per Bauchplatscher zu Gold

Anni Friesinger-Postma rutscht bäuchlings ins Ziel (Foto: AP)
Bäuchlings ins Finale: Anni Friesinger-Postma gibt im Team-Rennen allesBild: AP

Ein Bild, das von diesen Spielen in Erinnerung bleiben wird, ist jenes der bäuchlings ins Ziel rutschenden Eisschnellläuferin Anni Friesinger-Postma. Die Olympiasiegerin strauchelte, fiel, schob im Liegen noch den für die Zeitmessung entscheiden Fuß nach vorne und sicherte dem Damen-Team so das Ticket fürs Finale. Letzteres gewannen ihre Kolleginnen Stephanie Beckert, Daniela Anschütz-Thoms und Katrin Mattscherodt in einem packenden Krimi mit nur zwei Zehntelsekunden Vorsprung auf Japan. Es war nicht die einzige Medaille der Eisschnellläuferinnen: Vor allem die junge Stephanie Beckert zeigte mit zwei Silbermedaillen über die 3000 und 5000 Meter, dass ihr über die langen Distanzen die Zukunft gehört.

Auch die deutschen Langläufer überzeugten: Fünf Medaillen gingen auf ihr Konto. Während der schon abgeschlagene Axel Teichmann mit einer fulminanten Schlussrunde noch Silber über die Marathondistanz von 50-Kilometern holte, gelang den Damen die absolute Sensation: Evi Sachenbacher-Stehle und Claudia Nystad fuhren im Team-Sprint sensationell zu Gold. Im Team erfolgreich waren auch die Skispringer, die Silber holten, und die Kombinierer, die sich über Bronze freuten. Allerdings gelang in den Individualdisziplinen jeweils ziemlich wenig.

Achillesferse Trendsportarten

Ted Piccard und Daron Rahlves stürzen im Skicross (Foto: AP)
Spektakulär: Sportarten wie Skicross elektrisierten das Publikum.Bild: AP

Auffällig blieb auch die deutsche Erfolglosigkeit in den jungen Trendsportarten. Deutschlands Sportler holten von den 60 Medaillen im Shorttrack (24), Snowboard (18) und Ski Freestyle (18) keine einzige. Eine Tatsache, die der oberste deutsche Sportfunktionär Thomas Bach zur Selbstkritik veranlasst: "Wir kommen hier mit den üblichen Fördermaßnahmen nicht weiter. Es gibt bei uns in diesen neuen Sportarten keine Pistenkultur und es fehlt eine Halfpipe in Deutschland. Es muss ein Umdenken in der Sportkultur eingeleitet werden." Bis zu den Winterspielen von 2018, für die sich auch München und Garmisch-Partenkirchen bewerben, sollen die Deutschen in diesen Disziplinen konkurrenzfähig sein.

Gastgeber Kanada hatte in dieser Hinsicht ein besseres Händchen. Sechs Goldmedaillen in den seit 1992 eingeführten Trendsportarten verhalfen Kanada erstmals zu Platz eins in der Nationenwertung. Während sich die weltoffenen Kanadier am Rande der Pisten und Loipen als exzellente Gastgeber zeigten, verteilten ihre Sportler hingegen keine Gastgeschenke. Der Siegeszug Kanadas warf allerdings auch Fragen auf: Hat sich der Gastgeber die olympischen Triumphe "erkauft"? 82 Millionen Euro investierte die kanadische Politik seit 2005 in ein Förder-Programm mit dem selbstbewussten Titel "Own the Podium" (Erobert das Podium), um den heimischen Spitzensport in Goldform zu bringen. Es war eine Investition, die sich nun in Edelmetall auszahlte. Nur an der olympischen Romantik hat die Erkenntnis des offenbar finanziell planbaren Erfolges einige Schrammen hinterlassen. Aber auch das gehört mittlerweile wohl zum Wesen der Olympischen Spiele.

Autor: Joscha Weber

Redaktion: Arnulf Boettcher