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Prekär aber wahr

Monika Dittrich19. Oktober 2006

Warum es richtig ist, dass jetzt in Deutschland von einem "Unterschichtenproblem" gesprochen wird. Ein Kommentar von Monika Dittrich

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Monika Dittrich Fernschreiber

Wer nicht vom "Sterben" spricht, sondern vom "Heimgehen", vom "Freisetzen" statt vom "Entlassen", oder wer lieber "Umsiedlung" sagt statt "Vertreibung", der benutzt Euphemismen. Also beschönigende oder verhüllende Umschreibungen für etwas Anstößiges oder Unangenehmes. Und genau so ist es auch mit der Unterschicht. Politiker wollen dieses Wort nicht in den Mund nehmen - schließlich ist es eine Bankrott-Erklärung ihrer Arbeit. Statt dessen wird politisch korrekt von einer "neuen sozialen Frage" gefaselt, von "bildungsfernen Familien mit schwachen Erziehungskompetenzen" oder von "Menschen mit Integrationsproblemen".

Konfrontation mit der Wirklichkeit

Spitzenreiter im Schönfärben ist dieser Tage Arbeitsminister Franz Müntefering von der SPD, der meint, es gäbe gar keine Schichten in Deutschland, sondern nur "eine" Gesellschaft. Schön wär's. Vielleicht sollte Herr Müntefering mal einen Spaziergang durch Halle-Neustadt, Leipzig-Grünau oder Duisburg-Marxloh unternehmen. Dort wird er sie treffen, die Armen und Arbeitslosen. Die Menschen, die keine Hoffnung mehr haben, dass es ihnen irgendwann besser gehen wird. Oder die sich von einem befristeten und unsicheren Job zum nächsten hangeln. Diese Unterschicht gibt es in Deutschland, und sie wird immer größer. Wer das Problem bekämpfen will, der muss es zunächst einmal beim Namen nennen. Und dann wird schnell offensichtlich, dass viele teure Projekte und Konzepte der letzten Jahre gescheitert sind und dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland größer wird statt kleiner.

Politische Berechnung

Die Sozialdemokraten haben in dieser neuen Debatte aber auch noch ein anderes Kalkül. Sie wissen, dass die Zahl der Nichtwähler in der Unterschicht besonders groß ist. Ein hübsches Potenzial also für die SPD, die schon über die nächsten Wahlen nachdenkt. Die Klientel der Armen und Arbeitslosen will sie sich nicht von der Linkspartei oder den Rechtsextremen wegschnappen lassen. Außerdem gilt es nach dem Werben um die Neue Mitte und die Leistungsträger der Gesellschaft, jetzt auch mal wieder die Unterschicht zu umgarnen.

Am besten würde das allerdings gelingen, wenn die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft wieder die Möglichkeit bekämen, aus eigener Kraft den sozialen Aufstieg zu schaffen. Das erreicht man nicht, indem man den treffenden Begriff der Unterschicht in den Giftschrank steckt und vor dem eigentlichen Problem die Augen verschließt.