Genialität und Desaster
22. Juni 2009Lange, schmale Boote schießen den kleinen Wildfluss entlang. Der Wasserstand ist gering. An vielen Stellen ragen flache Steine durch die Oberfläche. Sie sind für die Wildwasser-Kanuten im Rennen leicht zu übersehen. Wer es nicht schafft, vorbei zu steuern, wird mit dem Ausgang des Rennens nichts mehr zu tun haben. Es geht um Bruchteile von Sekunden. Auf der Enz im nördlichen Schwarzwald findet eine Ausscheidung für die Europameisterschaft im Wildwasserrennsport statt. Es ist neben Kanu-Rennsport und Wildwasser-Slalom die dritte große Kanu-Wettkampf-Disziplin.
Im Training die Linie finden – und sie im Rennen auch treffen
Keine Tore - der ganze Fluss darf genutzt werden. Es geht ausschließlich stromabwärts. Die schnellste Zeit zählt. Ähnlich der alpinen Skiabfahrt hieß Wildwasserrennsport früher auch Wildwasser-Abfahrt. Es gibt zwei Streckenlängen: Kurze Sprint-Rennen mit zwei Läufen und die lange Classic-Distanz. Die Streckenlänge variiert - je nach Fluss und Strömungsgeschwindigkeit. Im Training gilt es, die schnellste Linie zu finden und sie im Rennen auch zu treffen. Dafür benötigt ein guter Fahrer "Ausdauer und Kraft, und vor allem auch das Auge fürs Wasser", erklärt Weltmeisterin Sabine Eichenberger aus der Schweiz. Frauen starten nur im Kajak-Einer. Für die Männer gibt es alternativ noch den Canadier-Einer und -Zweier. Seit 1953 werden Weltmeisterschaften im Wildwasser ausgetragen. Der erste Weltmeister hieß Toni Prijon – und fuhr damals noch im Faltboot. Inzwischen sitzen die Fahrer in High Tech-Booten aus Kohlefaser.
Die natürliche Selektion der Strecke
Markus Gickler ist fünffacher Ex-Weltmeister im Kajak-Einer. Er schätzt den Wildwassersport auch noch mit 42 Jahren: "Erstmal ist es eine Natursportart – es geht um die Auseinandersetzung mit der Strecke. Man hat Einzelstarts und fährt nicht direkt gegen einen Gegner. Für mich ist es außerdem eine tolle Sportart, weil man sofort eine Rückmeldung kriegt." Damit meint Gickler die Selektion durch die Strecke. Der schnellste Weg ist abhängig von Strömung und Hindernissen. Ein Abweichen von der Ideallinie führt schnell zu Steinberührungen oder Kenterungen. "Zwischen Genialität und Desaster liegt manchmal nur ein Millimeter," so der Altmeister.
"Es geht ja nicht um Leben und Tod"
Um in der Weltspitze zu paddeln, genügen zwei Trainingseinheiten am Tag nicht. Auch andere Dinge gilt es zu tun, erklärt der Kölner: "Man muss viel reisen, um die Wettkampfstrecken im Griff zu haben. Man muss sein Material in Ordnung halten und sich darum kümmern, dass es vielleicht neues Material für die spezielle Strecke gibt." In Deutschland bilden derzeit vor allem Fahrer aus dem Norden und Westen die nationale Spitze, auch ohne schweres Wildwasser vor der Tür. Das geht - schließlich seien die Wettkampfstrecken nicht übermäßig schwer: "Man kann das ganz gut mit Skilanglauf vergleichen", erklärt Gickler. "Wir stürzen uns ja nicht Sachen herunter, wo es um Leben und Tod geht."
"Nicht so steril wie andere Sportarten"
Dass sich die Wildwasser-Kanuten nicht zu verstecken brauchen, beweist einer ihrer ehemaligen Top-Fahrer: Max Hoff. Der Kölner wurde Welt- und Europameister im Wildwasser. Danach wechselte er ins Flachwasser zum Kanu-Rennsport. Dort ist die finanzielle Unterstützung besser. Mit Rang fünf in Peking erfüllte er sich den Traum von Olympischen Spielen. Die Rennen auf dem ruhigen See können aber auch langweilen. Gerade die Abwechslung der unterschiedlichen Strecken ist für Sören Falkenhain aus Niedersachsen wichtig: "Wir haben praktisch bei jedem Rennen einen anderen Fluss und immer andere Bedingungen. Das ist einfach nicht so steril wie andere Sportarten."
Für die EM in Italien gilt Tobias Bong als vielversprechender Fahrer im Kajak. Er ist ebenfalls ein Kölner, 21 Jahre alt und bereits Deutscher Meister. Bong gewann die Ausscheidung auf der Enz. Dort hatte er deutlich in Führung liegend das Rennen noch einmal spannend gemacht: "Ich hatte auf der Hälfte der Strecke einen Fahrfehler und habe mein Boot ein bisschen demoliert." Die Steinberührung brachte ihn aus dem Rhythmus – nur anderthalb Sekunden Vorsprung konnte Bong ins Ziel retten. Bei der EM darf ihm das nicht passieren. "Ich werde mein Bestes geben und dann schauen wir mal, was dabei heraus kommt", stapelt der Viertplazierte der letzten WM tief.
Vergleichsweise geringe finanzielle Förderung
Die Deutschen zählen neben Tschechien, Frankreich und Italien zu den starken Nationen. Im deutschen Team schaut man zuversichtlich in Richtung EM. Lutz Fahlbusch, Ressortleiter beim Deutschen Kanu Verband, will mit der deutschen Mannschaft die erfolgreichste Nation werden - wie schon im letzten Jahr bei der WM. "Das kann man gut verkaufen. Die Sportler sind durchweg hoch motiviert", sagt der Funktionär. Ein gutes Abschneiden bei den Titelkämpfen ist wichtig für das deutsche Team. Schließlich ist der Wildwasserrennsport eine nicht-olympische Disziplin und behält nur durch Erfolge die vergleichsweise geringe finanzielle Unterstützung durch den Verband und die Sporthilfe. Deshalb müssen sich die deutschen Fahrer bei der Europameisterschaft ganz besonders konzentrieren, etwa auf die kleinen flachen Steine knapp an der Wasseroberfläche. Sie können ein Rennen entscheiden - wie auf der Enz im Schwarzwald.
Autor: Julian Rohn
Redaktion: Arnulf Boettcher