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Zwischen allen Bundestagsstühlen

Marcel Fürstenau, Berlin21. Oktober 2005

Die Sitzordnung im Bundestag ist so eine Sache. In der ersten Reihe sitzen die Fraktionsvorsitzenden, aber nicht nur oder auch nicht. Klingt kompliziert - und ist es auch.

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In der ersten Reihe zu sitzen, ist nicht jedermanns Sache (egal, ob männlich oder weiblich). Das war früher in der Schule so, weil es sich da unter den misstrauischen Augen des Lehrers schlechter vom Nachbarn abschreiben ließ. Das ist aber erstaunlicherweise auch oft unter Journalisten der Fall, wenn bei Pressekonferenzen die vordersten Plätze unbesetzt bleiben (Berührungsängste mit den Mächtigen?). Es gibt aber auch Lebenssituationen, in denen sich die Leute um diese Plätze reißen. Etwa im Konzertsaal oder im Fußball-Stadion, weil dort die Akustik bzw. der Blick aufs Spielfeld besonders gut sind.

14 Stühle an vorderster Front

Heiß begehrt ist die allererste Reihe im Deutschen Bundestag. Dort sitzen üblicherweise die Fraktionsvorsitzenden - aber nicht nur oder auch nicht. Das klingt kompliziert, und das ist es auch. Das Ganze beginnt mit der Zahl der Stühle. Aus irgendwelchen Gründen gibt es ganz vorne 14 Stück. Jeweils fünf davon dürfen die größten Fraktion, Union und SPD, in Beschlag nehmen. Ihre Vorsitzenden Angela Merkel (noch ist sie nicht Kanzlerin) und Franz Müntefering haben also die freie Auswahl. Den Liberalen stehen als größter Oppositions-Fraktion zwei Stühle zu, auf denen der noch bis ins kommende Frühjahr amtierende Wolfgang Gerhardt und der ihn dann auch in dieser Funktion ablösende FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sitzen.

Künast mit Manieren

So weit, so gut. So weit kein Problem. Anders sieht es bei den Grünen aus, die sich wie die Linkspartei merkwürdigerweise je zwei Fraktions-Vorsitzende leisten. Weil die einstige grüne Bürgerschreck-Partei inzwischen Manieren gelernt hat, durfte bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages die ehemalige Ministerin Renate Künast in der ersten Reihe Platz nehmen. Worauf die Powerfrau wohl weniger aus feministischen Gründen, denn aus machtpolitischen Gründen Wert gelegt haben dürfte. Ihr Kompagnon an der Fraktionsspitze, Fritz Kuhn, saß weiter hinten.

Ost-West-Konflikt?

Kein Problem der Höflichkeit gab es für die Linkspartei mit ihren beiden prominenten Fraktionschefs Gregor Gysi und Oskar Lafontaine. Hätte einer der beiden die Pole Position im Parlament übernommen, wäre daraus wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft womöglich ein Ost-West-Konflikt konstruiert worden. Die clevere Lösung bestand darin, den Partei-Vorsitzenden Lothar Bisky vorne zu platzieren. Das war auch deswegen eine schöne Geste, weil er der Linkspartei-Kandidat für einen der sechs stellvertretenden Parlamentspräsidenten war.

Affront gegen die Ostdeutschen

Leider ereignete sich dann etwas, was die so klug austarierte Sitzordnung total durcheinander brachte: Die Mehrheit der am 18. September gewählten Volksvertreter verweigerte Bisky die Zustimmung - drei Mal. Ein Affront gegen Bisky selbst, gegen die Linkspartei und die Ostdeutschen. Der Bundestag hat sich im übertragenen Sinne zwischen alle Stühle gesetzt. Wäre Bisky, wie es sich aus guter alter Sitte und Tradition gehört hätte, gewählt worden, säße er automatisch weiter oben. Dort, wo das Bundestagspräsidium residiert.

Tief gesunken

Vielleicht kommt die Linkspartei nun auf die Idee, auch künftig keinen ihrer Fraktionschefs in die erste Reihe zu setzen. Stattdessen könnte es sich dort vier Jahre lang der von vielen Parlamentariern so sehr gedemütigte Lothar Bisky bequem machen. Und das Hohe Haus daran erinnern, wie tief es mitunter sinken kann.