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Zwangsgemeinschaften wider Willen

Stephan Hille, Moskau8. Februar 2005

"Petrow - 1-mal klingeln, Iwanow - 2-mal klingeln, Sidorenko - 3-mal klinglen, Michailow, 4-mal klingeln …"

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Es gibt sie noch, die von den meisten Bewohnern gehasste "Kommunalka" - die russische Gemeinschaftswohnung. Zu erkennen an der "Klingelanleitung" vor der Wohnungstür. Häufiger jedoch hängen an den Wohnungstüren so viele Klingelknöpfe wie es Mieter gibt - denn in aller Regel wollen die Bewohner einer "Kommunalka" mit ihren Nachbarn außer der gemeinsamen Wohnung so wenig wie möglich teilen.

Mit den Ideen der im Westen unter Studenten beliebten Wohngemeinschaften hat die russische "Kommunalka" nichts zu tun. Sie ist ein Relikt aus Sowjetzeiten und Zwangs-Kommune, die den Russen in den Jahren nach der Oktober-Revolution aufgezwungen wurde.

Bolschewistischer Gerechtigkeitssinn

In Moskau und St. Petersburg sowie den übrigen Metropolen wurde gegen Ende zwanziger Jahre der Wohnraum knapp. Durch die forcierte Industrialisierungspolitik stieg der Anteil der Bevölkerung in den Städten an, ohne dass der Wohnungsbau hinterher kam.

Gleichzeitig gab es vor allem in St. Petersburg und in Moskau die großen Bürgerwohnungen, deren Mieter oder Eigentümer - sofern sie nicht verhaftet worden waren - nun zusammenrücken mussten. Die Bolschewiki hielten es für gerecht, dass nun vor allem die Arbeiter in schönen Wohnungen leben sollten, zumindest in einem kleinen Teil davon. Pro Zimmer eine Familie, oder auch mehr.

Klobrille am Haken

Neue Wände wurden eingezogen, zunächst aus Sperrholz, später auch aus Stein, so wurden aus den Bürgerwohnungen riesige (Zwangs)-Wohngemeinschaften. Jede Zimmerpartei hat ihren eigenen Herd in der Küche, denn je weniger geteilt werden muss, desto besser für den Wohnungsfrieden. In manchen Kommunalka-Wohnungen nehmen die Mieter nicht nur ihr privates Toilettenpapier mit ins Bad sondern nehmen auch gleich die eigene Klobrille, in anderen Kommunalkas hängen die Toilettenbrillen auf Haken an der Wand.

Geschichten über die Kommunalka handeln mehr von Krieg als von Frieden unter den Hausbewohnern. Stoff für Konflikte gab s genug: Die lärmenden Kinder, die hysterische Nachbarin oder der Alkoholiker, der schon wieder einen fremden Kochtopf beim Altmetallhändler für eine Flasche Wodka eingetauscht hat.

Bloß nicht aufregen

Die einfachste Art der Rache an den bösen Nachbarn in der Gemeinschaftswohnung ist das Spucken in den fremden Suppentopf - ein Klassiker in der Kommunalka. Auch in der Sprache schlug sich das Kommunalka-Leben nieder: "Pinkel` nicht in den Teekessel" wird als Umschreibung gebraucht, wenn man sagen will: "Reg` Dich nicht über jede Kleinigkeit auf."

Noch heute leben allein in St. Petersburg mindestens 600 000 Menschen in Kommunalkas, das heißt, ungefähr jeder siebte Petersburger teilt sich mit anderen eine Gemeinschaftswohnung. Es sind vor allem die Alten und die Armen, die sich den Umzug in eine eigene Wohnung nicht leisten können. Für viele hat es gerade dafür gereicht, das eigene Zimmer in der Gemeinschaftswohnung zu privatisieren.

Die Alten und Armen

Die Stadtverwaltung von St. Petersburg hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst rasch alle Kommunalkas aufzulösen und die Bewohner in Neubauten umzusiedeln. Die meisten Gemeinschaftswohnungen sind in einem maroden Zustand, über Jahre verfielen viele der alten Häuser im Zentrum der Stadt.

Doch noch ist die Kommunalka nicht vom Aussterben bedroht. Viele der älteren Menschen, die ihr ganzes Leben in einer sowjetischen Wohngemeinschaft gelebt haben, wollen heute nicht mehr umziehen. Für sie ist die Kommunalka zum Altenheim geworden - und wer Glück hat, sogar mit netten Nachbarn.