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Zurück zur deutsch-ägyptischen Normalität

2. März 2011

Nach der Revolution steht Ägypten vor einem politischen und gesellschaftlichen Neuanfang. Die Lage hat sich stabilisiert. Der Leiter einer deutschen Auslandsschule spricht im Interview über seine Umbruchs-Erlebnisse.

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Ein Mädchen schreibt seine Eindrücke von der Revolution an die Tafel (Foto: Deutsche Schule der Borromäerinnen Kairo)
Der erste Schultag nach der ägyptischen RevolutionBild: DSB Kairo

Deutsche Welle: Herr Ritter, was haben Sie in den vergangenen Wochen in Kairo und auch an der Schule erlebt?

Walter Ritter: Die letzten vier Wochen waren sehr bewegend turbulent und natürlich zum Teil auch beängstigend, vor allem, als am Freitag in der ersten Woche die Demonstrationen gewaltsam von außen angegriffen worden sind. Zudem gleichzeitig die Polizei verschwunden ist, auf Anweisung vom Innenminister. Man muss sich vorstellen, das sind rund eine Million Polizeileute, die normalerweise in Ägypten überall alles regeln. Die sind seitdem weg und bisher nur in Bruchteilen wieder aufgetaucht. Gleichzeitig wurden 20.000 bis 30.000 Häftlinge freigelassen, die drei Tage lang für große Unruhe, auch für Plünderungen und für große Probleme gesorgt hatten. Und in diesen drei Tagen sind bei mir von der Schule - ich habe ungefähr 30 deutsche Kollegen und 20 ägyptische - 90 Prozent der deutschen Kollegen mit Hilfe der Botschaft ausgeflogen worden.

Hatten Sie und Ihre Kollegen und auch die Schülerinnen wirklich konkret das Gefühl der Bedrohung?

Wir haben jetzt nach Schulbeginn wieder einen Tag der Verarbeitung gemacht, und in der Zwischenzeit habe ich auch Rückmeldungen bekommen. Es ist so, dass nahezu jede Familie irgendwo eine Bedrohung gespürt hat. Ich habe Mädchen gesprochen, die gesagt haben, sie mussten am Abend das Licht ausmachen und waren die ganze Zeit dann im Dunkeln ab sechs Uhr abends. Während der Ausgangssperre durfte niemand auf die Straßen. Meine ägyptischen Eltern und auch die Kinder hatten diese wichtigen ersten zwei Wochen praktisch nur zu Hause verbracht und in täglicher Angst gelebt.

Drei Mädchen halten Schilder vor die Kamera, auf denen sie ihre Eindrücke von der Revolution schildern (Foto: Deutsche Schule der Borromäerinnen Kairo)
"Hab keine Angst, dich zu ändern. Du kannst etwas Gutes verlieren, doch was Besseres gewinnen."Bild: DSB Kairo

Es ist jetzt auch die Frage: Kann man Schule machen oder nicht? Es dauert noch lange Zeit, weil auch im Moment in dieser Millionenstadt praktisch keine Polizisten zu sehen sind. Es läuft trotzdem, und das ist für mich das Faszinierende. Es gibt, abgesehen von Einzelfällen, nicht mehr Verbrechen als sonst. Bürger regeln den Verkehr. Bei uns vor dem Haus, in einem reinen Wohngebiet, waren Studenten, die hatten ein Lagerfeuer auf der Straße gemacht. Wir haben uns dann mit denen angefreundet. Wir haben ihnen in dieser Woche jeden Abend Holz runter gebracht und etwas zum Essen. Die kamen prompt bei Dunkelheit, haben sich zu viert dorthin gesetzt, die Straße bewacht und sind am Morgen wieder gegangen.

Was haben Sie bei dem Tag der Bewältigung gemacht mit den Schülerinnen?

Die Schülerinnen haben uns vermittelt, es sei ganz toll, jetzt nach der Revolution. Die kamen alle angemalt in rot-weiß-schwarz und hatten Fahnen dabei. Es gab zuerst einmal eine Feierstunde im Schulhof. Dann aber haben wir beschlossen, dass es auch Klassenlehrerangebote gibt. Zuerst durften die Mädchen eine Stunde auf dem Schulhof miteinander sprechen, Kontakt aufnehmen, und dann hat jeder Klassenlehrer ungefähr für vier Unterrichtsstunden mit den Mädchen etwas gemacht, schul- und stufenspezifisch. Zum Beispiel Geschichten geschrieben, Bilder gezeichnet, Musik gemacht, ein Theaterstück entwickelt. Und das haben wir dann in der letzten Schulstunde alles vorgeführt und zudem eine große Wand weiß gestrichen, wo die Mädchen dann eine Schulwand gestaltet haben. Unter dem Motto "Meine Wünsche, meine Sorgen, meine Hoffnungen" haben sie alles aufgeschrieben, was sie so bewegt hat. Diese Wand ist so ein richtiges Dokument. Die wollen wir auf jeden Fall stehen lassen.

Der Schulbetrieb ist jetzt wieder angelaufen. Aber es ist sicherlich nicht mehr alles so wie vorher an der Schule …

Es ist jeden Tag etwas los. Wir müssen jetzt versuchen, in der Schule Normalität zu leben, einfach den Unterricht nach Plan zu machen. Nach diesen zwei Verarbeitungstagen haben wir jetzt ein Konzept, wo wir uns nur noch um einzelne Schülerinnen kümmern, die traumatisiert sind. Aber wir versuchen, den Rahmen zu bieten, dass der Unterricht so normal wie möglich läuft.

Das Gespräch führte Klaus Gehrke
Redaktion: Claudia Unseld