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Zu spät, zu wenig

Rolf Wenkel5. September 2002

Die geringfügig gesunkenen Arbeitslosenzahlen helfen dem Bundeskanzler im Wahlkampf vermutlich nicht mehr, schreibt Rolf Wenkel in seinem Kommentar.

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Na schön. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist im August um ein paar tausend zurückgegangen, aber immer noch über der schlagzeilen- und symbolträchtigen Marke von vier Millionen geblieben. Bundeskanzler Gerhard Schröder wird in seinem Wahlkampf-Schlussspurt keinen Nutzen mehr aus dieser leichten Entspannung am Arbeitsmarkt ziehen können. Sie kommt zu spät, und es ist zu wenig. Die Opposition ist immer noch in der komfortablen Lage, den Finger in eine offene Wunde der Regierung zu legen. Seine Regierung sei es nicht wert, wiedergewählt zu werden, wenn es ihr nicht gelänge, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen zu drücken, hatte der Kanzler vollmundig zu Beginn seiner Amtszeit verkündet. Dieses Versprechen schien damals sogar zu vorsichtig zu sein, denn die New Economy schien damals ihren Siegeszug anzutreten, die Informations- und Telekommunikationsmärkte in Deutschland und in Europa standen vor einem explosionsartigen Wachstum, die Branche klagte lauthals über Arbeitskräftemangel, die Stimmung in der Wirtschaft war geradezu euphorisch.

Geplatzte Blase der New Economy

Nichts davon ist übrig geblieben. Und Christdemokraten und Cristsoziale scheinen von dieser geplatzten Blase am meisten zu profitieren. Jeder Soziologiestudent lernt im ersten Semester, wie man einen Wahlkampf führt: Man beauftragt ein Meinungsforschungsinstitut, herauszufinden, welche Themen den Bürgern am meisten am Herzen liegen. Hat man diese Themen identifiziert, muss man nur noch beim Bürger den Eindruck erwecken, man besitze genau zu diesen Themen die größte Problemlösungskompetenz. Schon hat man gute Chancen, bei den unentschlossenen Wählern die entscheidenden Prozentpunkte zu holen.

In Deutschland können sich die Parteien das Honorar für die Meinungsforschungsinstitute sogar sparen. Denn seit fünf, sechs Legislaturperioden steht immer das gleiche Thema ganz oben auf der Prioritätenliste der Bürger: Der Arbeitsmarkt. Und da haben die Sozialdemokraten eben versagt, basta. Kanzlerkandidat Edmund Stoiber lebt so komfortabel von diesem Argument, dass er es sich sogar leisten kann, die Flutkatastrophe in Ostdeutschland auf einer Nordseeinsel zu verschlafen. Das Thema Umwelt haben die Wahlkampfstrategen der Opposition schlicht vergessen. Macht nichts, kostet höchstens ein paar Prozentpünktchen, die aber nicht entscheidend sind.

Versäumte Reformen

Entscheidend ist, dass die Sozialdemokraten längst überfällige Reformen auf dem Arbeitsmarkt versäumt haben. Über 9.000 Gesetze, Paragraphen und Verwaltungsvorschriften schnüren den Arbeitsmarkt in Deutschland ein, lassen ihm keine Luft zum Atmen. Hastig zusammengerufene Reformkommissionen beschäftigen sich mit der Frage, wie man Arbeitslose schneller vermitteln kann. Seltsamerweise aber nicht mit der Frage, wie und wo neue Arbeitsplätze entstehen können. Und die entstehen nicht beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, sondern in der Wirtschaft. Der Wirtschaftsminister ist parteilos, liebt klassische Musik und schöne Gemälde. Ansonsten hat er nichts zu sagen. Das Wirtschaftsministerium ist systematisch aller Kompetenzen beraubt worden. Die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu verbessern, das kommt zwar in jeder Sonntagsrede vor, aber es geschieht nichts entscheidendes.

Dumm ist nur, dass Kanzlerkandidat Edmund Stoiber zwar den Finger in eine offene Wunde legt, aber viele Beobachter nicht glauben können, dass ausgerechnet er sie heilen kann. Als Ministerpräsident des Freistaates Bayern war er noch vollmundiger und unvorsichtiger als Schröder. Er hatte versprochen, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Dumm nur, dass Bayern die höchsten Zuwachsraten bei den Arbeitslosen zu verzeichnen hat. Stoiber verspricht, die Last der Sozialabgaben, unter der die Bürger und die Arbeitgeber stöhnen, auf unter 40 Prozent zu drücken. Warum haben seine Parteifreunde in 16 Jahren der Ära Kohl es dann zugelassen, dass diese Last von 32 auf 42 Prozent wächst? Nein, der Mann hat auch keine Patentrezepte, er kocht auch nur mit Wasser. So gehen denn die Deutschen am 22. September wählen - doch die Zahl derjenigen, die nicht zur Urne gehen, wird erschreckend hoch sein. Wundert das jemanden?