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Zeitnah

3. Juli 2009

Wenn man mich fragt, ob ich den Zustand der momentanen Geschäftssprache (und damit den Zustand der gegenwärtigen Welt) an dem Begriff Collaborative Business oder eher an dem kleinen Wörtchen zeitnah ablesen wollte...

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Porträtfoto Burkhard Spinnen Foto privat
Burkhard SpinnenBild: privat

...so zögere ich keine Sekunde. Denn Collaborative Business ist nur eine von vielen angelsächsischen Zierschleifen auf den Überraschungspaketen der Unternehmensberater – während "zeitnah" ein Wort ist, mit dem der Geist unserer Gegenwart klammheimlich in Millionen Münder schlüpft.

Ein Wörtchen als Seuche

Alle sagen jetzt: zeitnah. Pläne werden zeitnah umgesetzt, Termine zeitnah angesetzt, Realisationen zeitnah eingeklagt. Es wird zeitnah berichtet, informiert und gehandelt. – Und was heißt das? Natürlich nichts anderes als: bald, umgehend, so schnell wie möglich. Am besten schon gestern.

Anfangs dachte ich, zeitnah sei eine Neuschöpfung. Doch das stimmt nicht, der Duden von 1973 verzeichnet es bereits, und der aktuelle Duden wirbt sogar damit, dass er zeitnah über die Veränderungen der deutschen Sprache informiert. Ich vermute, zeitnah ist einmal in Analogie zu hautnah oder beinah entstanden. Aber dann hat es einen Dornröschen-Schlaf geschlafen, bis es vor kurzem von Millionen Sprechern wachgeküsst wurde, weil sie seiner bedürfen.

Denn diese Sprecher haben alle eine Sorge: zu spät zu kommen. Sie fürchten, von irgendeiner Entwicklung, die sie kaum erst begriffen haben, schon gleich abgehängt zu werden. Sie fürchten, dass es nicht reicht, nur gut und richtig und möglichst zügig zu agieren. Nein, da ist immer ein Trend, eine Mode, der sie möglichst nahe sein wollen. Und der größte Trend ist die Zeit selbst, die flüchtige Zeit, die immer schon ab- und weggelaufen ist.

Ein Wörtchen verspricht alles

Abbildung einer Bahnhofsuhr
Es eilt die Zeit...Bild: DW-TV

Vielleicht hören Sie jetzt das Versprechen, das aus diesem Wörtchen zeitnah spricht? Es ist das Versprechen, eine Sache nicht nur bald, sondern eben nahe an der Zeit schlechthin geschehen zu lassen. Wer zeitnah ist, der ist der Zeit nah; er wird getragen vom Strom der Zeit. Alle Termine arrangieren sich ihm wie von selbst, er spürt gar nicht mehr, wie schnell er ist, weil er mit der Zeit verschmilzt.

Zeitnah hat Karriere gemacht, weil die Zeit gekommen war, seine eher philosophische Bedeutung freizusetzen. Wir meinen, wenn wir zeitnah sagen, an der Oberfläche bloß: bald oder jetzt. Doch zugleich treffen wir mit einer Metapher: mitten in unsere Angst, zeitfern zu leben.

Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Gabriela Schaaf