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Zahl rechtsextremer Tötungsdelikte verdoppelt

Sabrina Pabst 30. Juni 2015

Brandenburg korrigiert seine Statistik und zählt die Opfer rechter Gewalt neu - mit erschreckenden Ergebnissen. Auch andere Bundesländer sollten die Zahl politisch rechts motivierter Straftaten überprüfen.

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Dortmund Rechtsextremisten Neonazis 2009 (Foto: picture-alliance/dpa/B. Thissen)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

Mehrere junge Männer sitzen zusammen in einem Wohnzimmer in Neuruppin, schauen Videofilme und trinken Bier. Am späten Abend kommen sie auf die Idee, "Penner aufzuklatschen". Was sie damit meinen, zeigen sie kurze Zeit später: Sie schlagen auf einen Obdachlosen ein. Treten mit ihren Stahlkappenschuhen erst auf seinen Körper, dann ins Gesicht. Sie schleudern ihre Bierflasche auf den Wehrlosen, stechen mit einem Messer mehrfach auf seinen leblosen Körper ein, weil "Obdachlose das Stadtbild von Neuruppin verunstalten und dort nicht erwünscht sind", sagen sie Monate später vor Gericht aus. Der willkürlich ausgesuchte und totgeschlagene Obdachlose heißt Emil Wendland.

Mirko H., Matthias P. und Remo B. gehören zur Skinhead-Szene im brandenburgischen Neuruppin. Matthias P. gibt in seiner polizeilichen Vernehmung an: "Ich zähle mich selber zur rechten Szene, da ich eine gesunde rechte Einstellung habe." Auch Remo B. gab zu Protokoll, er sympathisiere mit der rechten Szene. Mirko H. hingegen wollte nicht offen mit Skins in Verbindung gebracht werden, findet aber Obdachlose "ekelig". Ihre Attacke auf Emil Wendland wurde dennoch nicht von den zuständigen Behörden als rechtsextrem motivierte politische Straftat eingeordnet. Bis jetzt.

Auffällige Differenzen

"Ihre Motivlage ist ganz klar: Das sind Säuberungsphantasien und Sozialdarwinismus (Abwertung und Verfolgung Schwächerer, Anm. d. Red.). Da wird eine Feindgruppe ausgemacht, gegen die vorgegangen wird. Das werten wir als politisch motiviert", sagt Christoph Kopke vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) in Potsdam. Dass der Mord an Emil Wendland und noch 17 weitere Straftaten in Brandenburg eindeutig politisch motiviert waren, belegt seine Studie im Auftrag der Landesregierung.

Sie deckt auffällige Unterschiede zwischen den offiziell genannten Opferzahlen und den Angaben verschiedener Medien und zivilgesellschaftlicher Initiativen auf. Organisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung und der Verein Opferperspektive geben für Brandenburg 33 Fälle in den vergangenen 15 Jahren an. Offiziell wurden in Brandenburg nur neun Opfer gezählt, deren Täter wegen politisch rechts motivierter Taten verurteilt wurden. Dieser Unterschied war für das Innenministerium Brandenburg Anlass, unabhängige Sachverständige die Motive der Taten neu bewerten zu lassen.

Eine Gedenktafel für den Obdachlosen Emil Wendland steht in Neuruppin. Dort steht: Am 1. Juni 1992 wurde an dieser Stelle Emil Wendland von mehreren Neonazis brutal ermordet. Emil Wendland, damals vermeindlich obdachlos, wurde Opfer einer Ideologie, in der es keinen Platz für Menschen gibt, die als Schmarotzer angesehen und daher als "unwertes Leben" wahrgenommen werden. Obdachlose sind die zweitgrößte und am wenigsten anerkannte Opfergruppevon rechten Übergriffen. (Foto: Hanskarl Book)
Neuruppin: Gedenken an den rechtsextremen ÜberfallBild: Hanskarl Book

"Man kann nicht immer von einem politisch rechten Motiv sprechen, auch wenn die Täter alle Rechtsradikale sind", erklärt Studienleiter Kopke die Schwierigkeiten ihrer Arbeit. "Zivilgesellschaftliche Gruppen vermuten einen rechtsextremen Hintergrund, der die eigentliche Straftat verdecken soll. Im Einzelfall ist schwer zu entscheiden, ob die Strafsache tatsächlich mit der rechtsextremen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene zu tun hat."

Fokus der Ermittler gewandelt

In der Studie geht es um 24 Straftaten seit 1990. Ihr Ergebnis: Die Zahl von rechten Gewalttaten ist doppelt so hoch wie angenommen. Diese Differenz führen Kopke und sein Team auf die Ermittlungsmethoden der Polizei zurück. "Die Polizeibehörden hatten in den 1990er Jahren bis 2001 ein anderes Definitionssystem für politisch motivierte Kriminalität. Traditionell ging es um Staatsschutz, also um Taten, die eindeutig politisch gemeint sind und Botschaften transportieren", so Kopke. Heute drehten sich die Ermittlungen um Handlungen, die aus einer politischen Motivation heraus zu erklären sind. Oder um Feindbilder, die aber nicht unbedingt politisch gemeint sind und nicht primär einen Angriff auf die gesamte Gesellschaft darstellen.

Deutlich könne man dies bei Morden an Obdachlosen sehen, wie im Fall Emil Wendland. "Wir haben eine Reihe von Morden, die man damals nicht als politisch motiviert gesehen hat. Man hat die Täter natürlich gesucht und auch gefunden und verurteilt. Die Motivlage hat man aber nicht als politisch verstanden", so der Studienleiter. "In der Fachdiskussion über Rechtsextremismus hat die Problematik 'Sozialdarwinismus' in den 1990er Jahren keine Rolle gespielt." Insgesamt habe sich die Sicht auf gesellschaftliche Phänomene verändert und das hat sich in der Polizeiarbeit niedergeschlagen.

Rechtsextremismus - im Osten noch immer ein Problem

Dem Vergessen entrissen

Ralf Melzer, Rechtsextremismus-Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung, führt das Ergebnis auf Ausbildungs- und Sensibilisierungsdefizite bei der Polizei zurück. "Es geht darum, ein rassistisch motiviertes Delikt als solches zu erkennen und von Anfang an entsprechend polizeilich wie auch juristisch zu behandeln. Dann würden sich auch die Opfer seltener unangemessen behandelt fühlen."

Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter kündigte an, die neun neu definierten Fälle in die polizeiliche Statistik zur politisch motivierten Kriminalität aufzunehmen. "Manche Schilderungen der Tatabläufe lassen einen auch heute noch frösteln. Einige Fälle, von denen in der Öffentlichkeit fast nichts mehr bekannt war, konnten durch gründliche Auswertung der Quellen förmlich dem Vergessen entrissen werden", so Schröter auf der Pressekonferenz.

Langjährige kritische Beobachter wie Frank Jansen, Journalist bei der Zeitung "Der Tagesspiegel" und Experte für Rechtsextremismus in Deutschland, lobte gegenüber dem Rundfunk Berlin-Brandenburg, "dass diese Überprüfung ein Meilenstein ist in der Überprüfung der realen Zahl Todesopfer rechter Gewalt bundesweit. Ich hoffe, dass sich andere Bundesländer dem anschließen werden."

Erinnerung an die Opfer des NSU-Terrors

Vorbild Brandenburg

Seit 1990 wurden in Deutschland 65 Menschen aus rechtsextremen oder politisch rechten Motiven getötet, so die offiziellen Zahlen der Bundesregierung. Nichtregierungsorganisationen und engagierte Einzelpersonen wie Frank Jansen oder die Amadeu Antonio Stiftung sprechen von 152 bis 184 Todesopfern.

Auch Sachsen-Anhalt hat seine Zahlen überprüft - allerdings intern im Innen- und Justizministerium. Neun Fälle galten als umstritten, drei von ihnen wurden im Nachhinein als politisch rechts motiviert eingestuft.

Brandenburgs Untersuchung durch externe Sachverständige ist herausragend: Zum ersten Mal zieht eine Behörde die Konsequenz daraus, dass die Morde des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) jahrelang nicht als politische Straftaten erkannt wurden. Wie hoch die tatsächliche Zahl unaufgedeckter Tötungsdelikte mit rechtsextremem Hintergrund ist, bleibt so lange offen, bis weitere Bundesländer dem brandenburgischen Beispiel folgen.

Und auch Brandenburg steht erst am Anfang, meint Christoph Kopke vom MMZ: "Wir haben eine ganze Reihe Fälle, die sich rückblickend nicht beurteilen lassen, bei denen wir aber meinen, dass ein rechtspolitisches Motiv vorgelegen hat. Wir hätten vielleicht noch mehr Fälle aufnehmen können."