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Worte ohne Zuhörer

Silke Bartlick17. September 2003

Das Berliner Literatur-Festival hat sich zum Anziehungspunkt der internationalen literarischen Szene entwickelt. Aber die Krise der Lyrik ist auch dort zu beobachten – Dichtkunst findet kaum noch Publikum.

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Leute, lest Lyrik!Bild: Leo Seidel

In Berlins Hackeschen Höfen tobt das Leben. Staunende Touristen mischen sich mit jeder Menge junge Szenegänger, die sich ins urbane Nachtleben stürzen wollen. Zwei Straßenecken weiter geht es deutlich ruhiger zu. Obwohl hier doch Großes stattfindet, in den charmant-morbiden Sofien-Sälen, dem zentralen Veranstaltungsort des 3. Internationalen Literaturfestivals (10.-21.9.2003).

Mauerblümchen Lyrik

Das Publikum lässt sich vor allem von den großen Namen locken: Pastior, Walser, Franzen, Kureishi, Grass, Kertesz oder de Winter sorgen für volle Säle. Aus Russland, Korea, Griechenland, Ungarn oder Mexiko angereiste Lyriker aber, deren Werke es im deutschen Sprachraum oft erst noch zu entdecken gilt, treffen nur intime Publikumsrunden an - in Berlin lebende Landsleute, Deutsche, die eine besondere Verbindung zum Herkunftsland der Lyriker haben sowie eingeschworene Freunde dieses literarischen Genres – wie zu beobachten bei den Poetry-Nights des Festivals.

Lyrik in Polnisch, Tschechisch, Ungarisch

Der Pole Ryszard Krynicki liest an diesem Abend aus seinem Werk, lakonische Texte, in denen das politische und poetische Potenzial der Sprache realitätsnah ausgelotet wird, der Ungar Ferenc Szil taumelt metaphysisch zwischen Bahn- und Friedhöfen und Zbynek Hejda präsentiert Auszüge seiner in Tschechien lange verbotenen Gedichtzyklen.

Konzentriert verfolgen die knapp fünfzig Besucher dieser Veranstaltung den Vortrag der Lyriker. Manch einer mag es allerdings bedauern, dass ein Gespräch mit den Herren, der so genannte "Poetry Talk", ob der gedrängten Fülle des Programms erst am nächsten Tag stattfinden kann. Wüsste man doch jetzt gerne mehr über die Arbeitsbedingungen in untergegangenen Diktaturen oder über die heutige Weltsicht der Lyriker. Ein organisatorischer Fehler, der nicht eben dazu beiträgt, einem breiteren Publikum Lyrik schmackhaft zu machen.

Stirbt die Lyrik?

Lyrik scheint hierzulande als Kulturgut mehr und mehr abhanden zu kommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern frönt sie ein Dasein im Elfenbeinturm. "Zum Beispiel in den arabischen Ländern hat sie einen ausgesprochen hohen Stellenwert bis heute“, sagt etwa die Schweizer Übersetzerin und Dichterin Ilma Rakusa. "Es möchte eigentlich jeder ein Lyriker sein, weil es nichts Höheres, nichts Edleres, nichts Schöneres gibt als Lyrik.“ Und auch in der slawischen Sprach-Welt habe Lyrik ernorme Bedeutung. "Ich kenne keinen Russen, der nicht Dutzende von Gedichten auswendig kann. Heute noch!"

Bei uns aber, so Ilma Rakusa, schreckten die strengen Interpretationsvorgaben der Lehrer junge Menschen von der Lyrik ab. So kommen sie nie in den Genuss, Gedichte einfach mal hin und her zu kauen und ihre Wortgewalt auf sich wirken zu lassen. Dabei könnte es ganz einfach sein: Das Internationale Literaturfestival hat jedoch sein Angebot für Schüler und Schülerinnen in diesem Jahr deutlich ausgebaut. Und es wird ausgesprochen gut angenommen. Leider steht keine Lyrik auf dem Programm. Aber das könnte man ja im nächsten Jahr einmal versuchen - und sei es nur als Appetithappen, der zur gelegentlichen Besinnung im tosenden Großstadtleben einlädt.