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Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

18. November 2010

Deutschland ist kein armes Land – trotzdem leben immer mehr Kinder von Sozialhilfe. Was das bedeuten kann, zeigt das Grips-Theater in Berlin mit seinem Stück "Ohne Moos nix los".

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Zwei Fahrraddiebe im Stück "Ohne Moos nix los" des Berliner Kinder- und Jugendtheater Grips in Gangsterklamotten (Foto: davidbaltzer/bildbuehne.de).
Leben ohne Geld? Geht nicht.Bild: davidbaltzer/bildbuehne.de

Ein unordentlicher Pferdeschwanz, eine geringelte Leggings, giftgrüne Turnschuhe, große runde Augen und ein fröhliches Lachen. Jule wird von den kleinen Theaterbesuchern sofort akzeptiert. Ihre Lieblingsbeschäftigung: Leute beobachten und sich Geschichten über sie ausdenken.

Dabei erwischt sie aber der gleichaltrige Lukas: "Ey, was machst du da?" "Wonach sieht es denn aus?" giftet Jule zurück. "Ich wohn hier aber!" "Na und, und ich wohn woanders!" Trotz des streitlustigen Tons freunden sich Jule und Lukas an. Und das, obwohl ihre Familien unterschiedlicher nicht sein könnten.

Schlüsselkind und Tiefkühlpizza

Jule wohnt mit ihrem älteren Bruder bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Die arbeitet ständig in einem schlecht bezahlten Job, ist selten zu Hause und wenn, bringt sie nur Tiefkühlpizza vorbei. Lukas hingegen schwimmt in modernem, technischem Spielzeug, hat einen eigenen Computer und eine Menge DVDs, seine Mutter bekocht ihn und ist ständig für ihn da.

Die Bänke im Grips-Theater sind alle voll mit Schulklassen besetzt (Foto: DW/Nadine Wojcik).
Volles Haus im Grips-TheaterBild: DW/N. Wojcik

Die Dialoge sind zackig, die Charaktere authentisch, Lieder – ganz in Tradition des Grips-Theaters – unterstreichen die jeweilige Gefühlslage. So begreifen die Grundschüler auch sofort, um was es geht: "Jules Mutter verdient nicht so viel Geld und Jule hat nicht so viele Freunde und wird immer gehänselt", erklärt ein junger Zuschauer. Seine Klassenkameradin ergänzt: "Sie hat halt nicht so schicke Sachen an." Und Murat aus der sechsten Klasse stört vor allem, "dass die Mutter nicht immer so ganz da ist."

Auf Nachfrage loben die Kinder einstimmig Schauspieler und Lieder, "Ohne Moos nix los" sei "das beste Theaterstück überhaupt". Sicherlich sind kleine Zuschauer ein dankbares Publikum, aber das auch nur dann, wenn die Dramaturgie stimmt und die Kinder gekonnt in ihrer Lebensrealität abholt werden. Und so musste Grundschullehrer Andreas Schwarz auch nicht lange überlegen, ob er mit seiner sechsten Klasse das neue Stück im Grips-Theater besucht: "Die Problematik der Armut kommt auch bei uns vor. Einige Kinder bekommen das Geld für die Schulbücher vom Amt, insofern betrifft das unsere Kinder teilweise." Belasten würden die Kinder aber vor allem die sozialen Folgen der Armut, wenn sie beispielweise wegen fehlender Markenklamotten ausgeschlossen werden, oder wenn die Eltern aufgrund der schwierigen finanziellen Situation keine Zeit für sie haben.

Jule und ihr Bruder Tim. Tim sitzt auf einem Fahrrad und beschwert sich, dass Jule ihm nachspioniert. Jule grinst (Foto: davidbaltzer/bildbuehne.de).
Tim (Sebastian Achilles) beschwert sich, dass Jule (Katja Hiller) ihm nachspioniertBild: davidbaltzer/bildbuehne.de

Nett - auch ohne Geld

Als sich Jules Bruder Tim seinen Frust von der Seele rappt, sind die Kinder kaum noch auf den gepolsterten Theaterbänken zu halten, klatschen und rappen mit. Tim hat eine eigene Lösung für die ständige Geldnot der Familie gefunden: Er klaut Fahrräder. Seine Mutter und Jule lügt er an und behauptet in einer Fahrradwerkstatt zu arbeiten. Dumm nur, dass Jule gemeinsam mit ihrem neuen Freund Lukas beim "Leute beobachten" Fahrraddiebe aufspürt - und dann auch Tim bei ihnen entdeckt.

Jule ist hin und her gerissen. Sie kann doch unmöglich ihren eigenen Bruder bei der Polizei anzeigen! Und dann taucht auch noch ihr Klassenlehrer zu Hause auf, denn Jule schwänzt ständig die Schule, weil sie dort immer gehänselt wird. Und so haut Jule schließlich ab. Dabei liegt die Lösung doch auf der Hand, findet ein Mädchen aus einer vierten Klasse: "Man kann doch trotzdem mit ihr befreundet sein. Nur weil sie kein Geld hat, ist sie ja trotzdem nett." Ihr Klassenkamerad pflichtet ihr bei: "Das kann ja jedem mal passieren, dass die Eltern nicht so viel Geld haben."

Viele Kinder schämen sich


In kaum einer anderen deutschen Stadt herrscht eine derart große Kinderarmut wie in Berlin. 200.000 Kinder sind in der Hauptstadt betroffen, also jedes dritte Berliner Kind. Das Einkommen oder die Sozialleistungen ihrer Eltern reichen gerade einmal für das Nötigste wie Miete oder Lebensmittel.

Jule und ihr Bruder Tim im Stück "Ohne Moos nix los" des Berliner Kinder- und Jugendtheater Grips. Tim sitzt auf einem Stuhl und guckt Fernsehen, Jule nervt ihn in dem sich ihm von hinten auf die Schultern springen will (Foto:davidbaltzer/bildbuehne.de).
Jule und TimBild: davidbaltzer/bildbuehne.de

Winfried Tobias, Dramaturg des Grips-Theaters, hat gemeinsam mit dem Stückeschreiber Jörg Isermeyer eineinhalb Jahre an "Ohne Moos nix los" gearbeitet und dafür auch Kinder interviewt. "Das Thema ist in den Schulen sehr präsent, auch wenn die Kinder das oft nicht laut aussprechen." Als er bei der Stückvorbereitung in einer Klasse einmal nachfragte, wer von den Eltern der Schüler Sozialhilfe beziehe, hat sich kein Kind getraut, dies offen zu zugeben. Nachher erzählte ihm jedoch der Lehrer, dass 80 Prozent der Schüler aus Familien stammen, die auf Hilfe vom Staat angewiesen sind.

"Ohne Moos nix los" ist stark nachgefragt, die Schulvorstellungen für dieses Jahr sind bereits ausverkauft. "Die Lehrer wollen das Stück mit ihren Klassen besuchen, obwohl das Thema nicht auf dem Lehrplan steht und fragen bei uns auch die theaterpädagogische Nachbereitung an."

Nach der Pause überschlagen sich die Ereignisse auf der Bühne: Tim stellt sich selbst der Polizei. Jule kommt zurück nach Hause, die Mutter nimmt sich mehr Zeit für ihre Kinder und Lukas teilt mit seiner Freundin Jule sein teures Spielzeug. Zumindest im Grips-Theater geht die Geschichte von der armen Jule und ihrer Familie gut aus.

Autorin: Nadine Wojcik

Redaktion: Petra Lambeck