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"Woher kommt polnische Abneigung gegen Verfolgung von Naziverbrechern?"

6. Juli 2004

- Kommentar des Direktors des Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem zur Aktion "Letzte Chance"

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Warschau, GAZETA WYBORCZA, 30.6.2004, poln.

Die Argumente der Gegner der Aktion des Wiesenthal-Zentrums sind unverständlich. Wo kommt in Polen eine solche Abneigung gegen die Verfolgung der Naziverbrecher her?

Wenn man die zornigen Reaktionen der Spitzenpersönlichkeiten der polnischen Öffentlichkeit auf die in Warschau vor einer Woche begonnene Aktion "Letzte Chance" und die Errichtung einer Hotline beobachtet, muss man sich darüber wundern, weshalb ein Versuch, in Polen Naziverbrechen zur Verantwortung zu ziehen, solch eine Abneigung der Menschen hervorrief, von denen man eigentlich eine große Unternützung für diese Initiative erwarten sollte.

Der ehemalige Außenminister Bronislaw Geremek, dessen Vater in Auschwitz umgebracht wurde, empfindet "Unruhe und Ekel", der ehemalige Dissident und jetzige Chefredakteur von "Gazeta Wyborcza", Adam Michnik, bewertet diese Aktion als "gefährlich" und ein anderer Außenminister a. D. und Träger des Ordens "Gerechte unter den Völkern der Erde", Stanislaw Bartoszewski, nennt diese Aktion "wertlos". Daraus schließe ich, dass entweder die polnische Öffentlichkeit nicht genügend über die Ziele und die Methoden des Wiesenthal-Zentrums informiert wurde oder dass sich dahinter etwas viel ernsteres verbirgt.

Beginnen wir also mit den grundsätzlichen Fakten: Ich nehme an, dass die Grundmotive für diese Aktion völlig klar sind. Wie man weiß, bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Naziverbrecher vor Gericht zu stellen. Im besten Falle bleiben uns ein paar Jahre, um Gerichtsverhandlungen zu führen. Man darf nicht vergessen, dass - obwohl zahlreiche Täter aus der Zeit des Holocaust bereits verurteilt wurden - mehrere tausend Verbrecher noch nicht zur Verantwortung gezogen wurden, besonders in Deutschland, Österreich, aber auch in Osteuropa, wo sich zahlreiche Kollaborateure an der Aktion der "Endlösung" aktiv beteiligt haben. (...)

Dies bezieht sich vor allem auf die baltischen Staaten, aber auch auf die Ukraine, Rumänien, Ungarn, Kroatien und Weißrussland, wo einheimische Kollaborateure mit der Erlaubnis der Nazis eine bedeutende Rolle bei der Vernichtungsaktion spielten und sich aktiv an der Tötung beteiligt haben. In einer Weise bezieht sich das aber auch auf Polen. Dafür ist der Fall von Jedwabne ein Beweis. Dieser Ort war jedoch nicht der einzige Platz, an dem Polen Verbrechen gegen die Juden begangen haben.

Die Tatsache, dass über eine Million Juden, die in Osteuropa ums Leben gekommen waren, und einzeln durch Schüsse getötet wurden, beweist, dass die Durchführung solch einer Aktion auf einem so großen Gebiet die Beteiligung von zigtausenden Personen verlangt. Daraus wird aber auch klar, dass die Zahl der Täter sehr hoch war und dass viele von ihnen niemals zur Verantwortung gezogen wurden. (...)

Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass jemand diese Argumente grundsätzlich in Frage stellen würde. Ich gehe also zu praktischen Gründen über: "Eine Denunziation gegen Geld ruft Unruhe hervor, öffnet die Pandorabüchse der Abrechnungen, lügenhafter Beschuldigungen und demagogischer Verallgemeinerungen" - stellt Adam Michnik fest. Ich gebe ehrlich zu, dass ich diese Worte nicht ernst nehmen kann. Denken Sie wirklich, dass wir nicht jede einzelne Information unter die Lupe nehmen werden? Dass wir ohne eine gründliche Untersuchung die Namen der Verdächtigen veröffentlichen werden? Ich versichere Ihnen hiermit, dass wir uns für unwürdige Zwecke nicht missbrauchen lassen.

Es bleibt also das Problem der finanziellen Belohnung für die Informationen, was - ich muss das leider zugeben - nicht eine ideale Lösung ist. In einer idealen Welt gäbe es keinen Platz für solch einen Handel. Aber die Wirklichkeit ist leider weit von der idealen Welt entfernt und es ist eine gängige Praxis auf der ganzen zivilisierten Welt, eine Belohnung für Informationen über einen Verbrecher zu zahlen, die dazu führen, dass er festgenommen oder verurteilt wird. Der Gedanke, Geld an verdächtige Individuen für die Verurteilung von Naziverbrechern zu zahlen, erweckt einen Nebengeschmack bei mir. Es ist mit jedoch klar, dass dies in der heutigen Zeit notwendig sein kann, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. Man sollte sich darüber im klaren sein, dass ohne diese Belohnung sowohl die Aktion als auch ihr Ziel keine gesellschaftliche oder mediale Resonanz finden würden. Das Angebot einer verhältnismäßig kleinen Summe trug dazu bei, dass das Problem, Naziverbrecher zur Verantwortung zu ziehen, dorthin gelangte, wohin es eigentlich gehörte, d. h. auf den Fernsehbildschirm, in den Äther und auf die Titelseiten der wichtigsten Zeitungen.

Man darf also annehmen, dass die Proteste gegen die Aktion des Wiesenthal-Zentrums in Polen eine andere Grundlage haben, die aus der polnischen Empfindlichkeit in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg resultieren und aus der Tatsache, wie Polen diese Probleme bewältigen kann.

Beginnen wir mit den Argumenten von Professor Witold Kulesza (dem Vorsitzenden des Institutes für Nationales Gedenken - MD), der sagte, dass unsere Aktion die Glaubwürdigkeit der Bemühungen Polens, Naziverbrecher zu verfolgen, in Frage stelle und das, obwohl Polen zu den wenigen Staaten zähle, die ernste und konsequente Schritte unternehmen, Naziverbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Nichts ist von der Wahrheit so weit entfernt. Seit dem Moment, in dem das Institut für Nationales Gedenken ins Leben gerufen wurde, sind wir mit dem IPN im engen Kontakt. Wir schätzen - und zwar auch öffentlich - die Errungenschaften dieser Institution. Das Vertrauen, das wir in diese Institution haben, hat uns gerade dazu bewegt, diese Aktion in Polen zu starten (...).

Zweitens: Adam Michnik fragt, warum soll man die Täter des Holocaust anders behandeln als andere Verbrecher, die sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben? Bei dieser Frage stimme ich ihm absolut zu. Vielfach habe ich mich öffentlich dafür ausgesprochen, die Verbrechen des Kommunismus zu verfolgen sowie andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit. (...)

Nachdem das gesagt wurde, möchte ich auf zwei Aspekte aufmerksam machen. Erstens: Die Täter aus der Zeit des Holocaust haben Vorrang, weil sehr wenig Zeit bleibt, um sie zu verfolgen. Zweitens: Die Berufung und die Aufgabe des Simon- Wiesenthal-Zentrums besteht vor allem darin, diese und nicht andere Verbrecher zu verfolgen. Ich persönlich würde mich sehr freuen, wenn man ähnliche Institutionen ins Leben rufen würde, die sich mit der Verfolgung "anderer" Verbrechen gegen die Menschlichkeit befassen würden.

Es handelt sich schließlich um das Bild von Polen in den Augen der Welt. Bronislaw Geremek zieht es vor, der ganzen Welt beizubringen, "wie viel Gutes die guten Polen für die anderen Polen getan haben, indem sie Juden retteten". Dies ist zwar ein edles Vorhaben, in dem jedoch nur ein Teil der Wahrheit über den Holocaust auf dem Gebiet Polens beinhaltet ist. Die Polen können stolz auf die Organisation Zegota sein, eine Organisation, die im Untergrund zur Rettung der Juden ins Leben gerufen wurde. Die Polen können auf den Heroismus der Polen stolz sein, die zu den "Gerechten unter den Völkern" gehören. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass sich zahlreiche Polen an der Vernichtung ihrer Nachbarn beteiligt haben. Manche haben sogar den Nazis aktiv geholfen. Diesen Tatsachen sollte man sich stellen.

Die Polen ziehen es natürlich vor, als das einzige Opfer der Nazis in der Welt angesehen zu werden. Dies ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Dabei ist es am wichtigsten, das gesamte historische Bild zu erfassen. Ich glaube, dass dem auch die Tatsache dienen wird, die Schuldigen vor ein polnisches Gericht zu stellen.

Wir erwarten, dass unsere Aktion "Letzte Chance" Resultate bringen wird, sowie dass ihre Kritiker im Laufe der Zeit den Sinn dieser Aktion in ihrem eigenen Lande verstehen werden.

Dr. Efraim Zuroff, Direktor des Büros des Simon Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem (...) (sta)