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Mysteriöses Zittern

5. Februar 2010

Die Autorin Siri Hustvedt hatte nach dem Tod ihres Vaters immer wieder Zitter-Anfälle. In ihrem neuen Buch sucht sie nach den Ursachen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Autobiographie und psychologischem Sachbuch.

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"Ich wollte dieser mysteriösen Krankheit auf die Schliche kommen und gleichzeitig die Rolle des Ermittlers und des Opfers einnehmen", erzählt Siri Hustvedt im Konferenzraum eines Düsseldorfer Hotels. Nun könnte sie zittern, und niemand würde es als mysteriöse Krankheit deuten. Ihren dicken beigefarbenen Wintermantel behält sie während des gesamten Interviews an. Die Arme hat sie verschränkt. Denn stundenlang war ein Fenster geöffnet. Und so ist es nun eiskalt im Raum. Aber Siri Hustvedt zittert nicht, fröstelt nur ein wenig.

Ein ungewöhnliches Zittern beschreibt sie dagegen in ihrem neuen Buch. In "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven" schildert sie, wie sie im Jahr 2006, rund drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, eine Rede über ihn an dessen Universität hielt. Dem Vater, einem Nordistik-Professor, zu Ehren war damals ein Baum gepflanzt worden.

Das erste Zittern

"Selbstsicher und mit Karteikarten versehen", schreibt Siri Hustvedt, "blickte ich über die etwa fünfzig Freunde und Kollegen, die sich rund um die Fichte versammelt hatten, öffnete den Mund zu meinem ersten Satz und begann vom Hals an abwärts zu zittern. Meine Arme zuckten. Die Knie knickten ein. Ich zitterte so stark, als hätte ich einen Krampfanfall. Komischerweise war meine Stimme nicht betroffen."

Seitdem hat Siri Hustvedt mehrfach diese krampfartigen Zitteranfälle bei öffentlichen Vorträgen erlebt und deshalb Ärzte und Psychotherapeuten aufgesucht. Aber die konnten keine befriedigende Erklärung für ihr Symptom finden. Hängt es mit dem Tod ihres Vaters zusammen? Ist es Epilepsie oder Hysterie? Hat es mit Fieberträumen ihrer Kindheit zu tun oder gar damit, dass sie und andere Mitglieder ihrer Familie manchmal unerklärliche Stimmen hören? Siri Hustvedt will der eigenen rätselhaften Krankheit selbst auf die Spur kommen und liest wie eine Besessene psychiatrische, neurologische und philosophische Fachliteratur.

Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt (Foto: dpa)
Die amerikanische Schriftstellerin Siri HustvedtBild: picture-alliance/ dpa

Die Mehrdeutigkeit von Krankheiten

Das Buch ist das Zeugnis dieser Spurensuche. Zugleich autobiographischer Bericht einer Krankheit und populärwissenschaftliches Sachbuch: "Es ist eine intellektuelle Übung, in der die Mehrdeutigkeit von Diagnosen und Krankheiten und die damit verbundenen philosophischen Grundlagen diskutiert werden", bemerkt Siri Hustvedt und macht gleich eines klar: "Ich habe überhaupt kein Interesse daran, einfach nur so über mich selbst zu schreiben. Meine eigene Person dient mir nur als Ausgangspunkt, um mich intellektuellen Fragen zu widmen, die mich einfach nicht loslassen."

Ob auch die deutschen Leser, die dieses Buch in wenigen Wochen zum Bestseller machten, genauso wenig Interesse an Siri Hustvedt als Person haben, an der 54-jährigen, schönen Ehefrau von Paul Auster? Wenn Siri Hustvedt über ihre Zitteranfälle spricht und darüber, wie ihr Mann sie zum ersten Mal miterlebte, werden das viele Leser geradezu aufsaugen. Aber nicht wenige könnten sich ansonsten überfordert fühlen. Denn die autobiographischen Passagen machen nur rund ein Viertel des Buches aus. Im großen Rest erläutert Siri Hustvedt, untermauert durch 192 Anmerkungen, psychiatrische Fallstudien, schildert die Geschichte der Psychoanalyse, erklärt neue Ergebnisse aus der Hirnforschung, diskutiert philosophische Fragestellungen wie das so genannte Leib-Seele-Problem.

Weltschmerz und Zeitgeist

Die deutschen Philosophen sind für ihre Argumentation nicht wichtig. Das heißt aber nicht, die Autorin des Bestseller-Romans "Was ich liebte" hätte Kant, Hegel und Schelling nicht gelesen. Im Gegenteil: "Über Philosophie nachzudenken, ist ohne die deutsche Philosophie unvorstellbar", sagt sie und gerät ins Schwärmen: "Der philosophische Reichtum der deutschen Sprache hat so schöne Wörter wie 'Weltanschauung', 'Zeitgeist' und 'Weltschmerz' hervorgebracht. Wörter, die etwas über unsere Existenz in der Welt aussagen. Und das hat auch jenseits der Grenzen Deutschlands Gültigkeit."

Und so ist die Tatsache, dass Siri Hustvedts Buch "Die zitternde Frau" noch vor dem amerikanischen Original auf Deutsch erschienen ist, fast schon eine Hommage an das Land, in dem man ihre Bücher so sehr schätzt. Ihre Lesungen in Deutschland waren bis auf den letzten Platz ausverkauft. Vielleicht auch, weil sich viele Menschen vom Fazit des Buchs angesprochen fühlen: Manche Krankheiten erlauben keine eindeutigen Diagnosen. Überhaupt gibt es Dinge, die man nicht erklären kann. Und dazu gehört auch das Zittern von Siri Hustvedt.

Autor: Tobias Wenzel

Redaktion: Gabriela Schaaf

Siri Hustvedt: "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven". Aus dem amerikanischen Englisch von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag. 235 Seiten. 18,90 Euro.